Essay: Habt Geduld!
Theater mit Menschen mit Behinderungen ist so präsent wie nie, im Stadttheater, in der Freien Szene, auf Festivals. Zugleich gibt’s Gegenwind und Rückschläge. Prägnantestes Beispiel: die Münchner Kammerspiele. Kann das Theater retten, was die Gesellschaft bei der Inklusion vertrödelt hat?
Was ist nur mit den Münchner Kammerspielen los? In der Süddeutschen Zeitung schreibt Theaterkritikerin und Feuilleton-Redakteurin Christine Dössel wiederholt gegen deren Agenda „politischer Korrektheit“ unter Auslassung der Kunst an. Jakob Hayner findet in der Welt, dass es genügend inklusive Theater gebe, da müsse man nicht die Kammerspiele ruinieren. „Selten ist das grosses Theater, meist zielgruppenorientierte Gebrauchsware für die Vervollständigung des Gesinnungshaushalts“, urteilt Bernd Noack in der Neuen Zürcher Zeitung.
Man hat den Eindruck, dass sich nicht nur Teile der Kritik, sondern auch des Münchner Publikums nicht mehr in „ihren“ Kammerspielen wiederfinden, auch vor Ort, im zuweilen halbleeren Jugendstilsaal. Dorte Lena Eilers hat die Gründe im vergangenen Sommer analysiert. Eine Argumentation aber, die in den kritischen Texten zu den Kammerspielen auffällt, ist die: Weil das Haus inklusiv arbeitet, ist die Qualität gesunken.
Seit dem Amtsantritt von Barbara Mundel im Sommer 2020 gibt es im Ensemble zwei Schauspieler*innen mit Körperbehinderung und mehrere mit kognitiven Beeinträchtigungen. Es ist dabei nicht nur das erste Stadttheater, das diesen Schritt in der Besetzungspolitik geht. Sondern auch das erste aus dem Kreis jener Häuser, die wegen ihrer Geschichte, ihres Ensembles und ihres Budgets zu den leistungsstärksten im deutschsprachigen Raum gehören.
Inklusion als Querschnittthema
Das ist ja eigentlich ein Ausrufezeichen und passt gut in die allgemeine Entwicklung. Gerade erst ist mit „Riesenhaft in Mittelerde“ vom Schauspielhaus Zürich und Theater HORA erneut eine Produktion zum Theatertreffen eingeladen worden, die unter wesentlicher Beteiligung von Künstler*innen mit kognitiver Beeinträchtigung entstanden ist. 2023 kam mit „Der kaukasische Kreidekreis“, einer Koproduktion von Helgard Haug (Rimini Protokoll) und Theater HORA, erstmals eine inklusive Produktion bei den Salzburger Festspielen heraus. Der Regisseur Leander Haußmann und der Dramatiker Thomas Köck arbeiten mit dem Berliner RambaZamba Theater, das Kollektiv hannsjana macht mit dem Berliner Thikwa hinreißende Arbeiten wie zuletzt „Bauchgefühl“. Beim Festival Theaterformen in Hannover und Braunschweig ist unter der Leitung von Anna Mülter Inklusion zu einem Querschnittthema geworden. Auch im Tanztheater ist Bewegung: Sophia Neises hat 2023 den Deutschen Tanzpreis erhalten, Rita Mazzas „Matters of Rhythm“ wurde für die Tanzplattform 2024 ausgewählt, und mit Claire Cunningham am HZT Berlin gibt es jetzt die erste Tanzprofessorin mit Behinderung.
Man könnte also sagen: Die Kammerspiele kamen gerade zur rechten Zeit. Zumal sie auch nicht im luftleeren Raum entstanden. 2014 war das Staatstheater Darmstadt das erste Haus, das mit Samuel Koch und Jana Zöll zwei Schauspieler*innen mit Körperbehinderung fest ins Ensemble holte. 2019 richtete zudem das Schauspiel Wuppertal ein inklusives Schauspielstudio ein, um mangelnde Ausbildungsmöglichkeiten zu kompensieren. Die fünf Elev*innen werden auch im regulären Repertoire eingesetzt. Mit Yulia Yáñez Schmidt gibt es eine erste Absolventin, die ihr Festengagement am Jungen Schauspielhaus Düsseldorf angetreten hat. Am Schauspiel Hannover ist Alrun Hofert engagiert.
Das System infrage stellen
Das sind alles wichtige Entwicklungen. Die Kammerspiele aber legen noch eine gute Schippe drauf. Nicht nur haben sie das einzig wirklich inklusive Ensemble. Sie erforschen auch, wie man ein Stadttheater barrierefrei umbaut. Dabei geht es um Treppenstufen, zu schmale Türen und verwinkelte Räume. Aber vor allem um die Frage, welche Strukturen es braucht, um den Hochleistungsbetrieb Stadttheater so zu gestalten, dass alle an den kreativen Prozessen teilhaben können. Menschen mit Behinderung am Theater haben das Potenzial, das gesamte System infrage zu stellen. Was bedeutet Effizienz, was Produktivität? Warum dauert eine Probenphase im Schnitt sechs Wochen und nicht acht, zehn, zwölf? Müssen es wirklich 30 Premieren im Jahr sein? Haben wir aus den Erkenntnissen während der Pandemie nichts gelernt?