Essay: Im Magnetfeld des Mythos
Viele zeitgenössische Dramen reiben sich an klassischen Stoffen. Um etwas über uralte Muster menschlicher Erfahrungen zu erzählen. Aber auch, um gezielt Korrekturen an den Altvorderen vorzunehmen.
Was ist das mit der zeitgenössischen Dramatik gerade? Überall widmen sich die Autor:innen alten Stoffen. Natürlich bilden das auch die Mülheimer Theatertage ab: Drei der sieben eingeladenen Uraufführungen beziehen sich auf bereits literarisch bearbeiteten Vorlagen, auf Klassiker, den Kanon.
Da ist Thomas Köcks „forecast:ödipus“, das die Handlung und die Figuren aus Euripides‘ Tragödie mit der Frage nach unser aller Schuld an der Klimakatastrophe verknüpft – und der danach, warum wir zu wenig dagegen tun.
Da ist Roland Schimmelpfennings „Laios“, der zwar, indem er von Ödipus‘ Vater erzählt, eine Lücke in der Weltliteratur schließt, aber auf reiches (und sich in vielen Details widerstreitendes) antikes Quellenmaterial zurückgreifen kann.
Und da ist Sivan Ben Yishais „Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert“, das Henrik Ibsens „Nora oder Ein Puppenheim“ überschreibt zu einem Stück über Klassenunterschiede und den Wert von Nebenrollen (in der Dramatik wie im Leben).
Warum tun sie das? Vielleicht, weil wir die alten Geschichten brauchen mit ihren personalisierten Stellvertreterkonflikten, die Antigones und Kreons, die Elisabeths und Marias, die Fausts und Gretchens. Es sind die menschlichen Grundfragen nach Identität und Sinn, Macht und Emotionen, die dort diskutiert werden. Auf der organisatorisch-dramaturgischen Ebene der Stadttheater mag es sicher auch darum gehen, mit bekannten Titeln (selbst in der Verfremdung) die Abos vollzukriegen und den Bildungsauftrag abzuhaken. Aber der tatsächliche Hauptgrund, warum wir klassischen Stoffen auch heute noch so oft auf der Bühne begegnen, scheint mir doch im beispielhaften Durchspielen sämtlicher menschlicher Konfliktmöglichkeiten weit über den alltäglichen, zeitgenössischen Erfahrungsschatz hinaus zu liegen. Und in der Möglichkeit, unseren Abstand zu den alten Konfliktmustern auszumessen.