Opernkritik: Herr Graf und Frau Gräfin haben ein Eheproblem
Jürgen Flimm zeigt Salvatore Sciarrinos zeitgenössische Kammeroper „Luci mie traditrici“ im Schiller-Theater
Knacks, da bricht die Wand entzwei – und niemand schaut hin. Denn natürlich ist der Riss, der deutlich in der Schlossmauer klafft, ein Symbol: So richtig passen Graf und Gräfin nicht mehr zusammen. Er ist ein Hypersensibelchen, einer, der in Ohnmacht fällt, als er sich an einer Rose sticht. Sie dagegen versteckt ihre Gefühle hinter einem abgeklärt-abgründigen Lächeln, das erst kippt, als sie sich mit dem verführerischen Gast einlässt – vor den Augen des eifersüchtigen Dieners. Dabei wissen Opernkenner: Unterschätze nie das Personal!
Natürlich geht das nicht gut in Salavtore Sciarrinos „Luci mie traditrici“ (Meine verräterischen Augen) von 1998: Am Ende sind fast alle tot. Aber wie sie leben, leiden, sterben auf der Bühne des Schillertheaters, das ist eine Wucht! Die Staatsoper bemüht sich schon seit einiger Zeit um die Werke des italienischen Komponisten. „Luci mie traditrici“ ist allerdings das erste, das es – als Höhepunkt des Neue-Musik-Festivals Infektion! – auf die große Bühne schafft. Da gehört es auch unbedingt hin. Zum einen wegen der emotionsgeladenen Geschichte, die den Mordskandal des Renaissance-Komponisten Carlo Gesualdo aufgreift, ohne die historische Geschichte Eins zu Eins abzubilden.
Zum anderen wegen der Musik, die immer wieder auf unerhörte Weise an historische Vorbilder anknüpft, um sie beherzt zu atomisieren und aus diesen Fragment-Partikeln eine ganz eigene Klangwelt zusammenzusetzen, die unter die Haut geht. Anfangs singt ein Kinderchor die wehmütige Liebeserinnerung eines französischen Dichters, vertont vom Spätrenaissance-Komponisten Claude Le Jeune: eine fremd-schöne Weise, die Sciarrino später vielfach variiert.
Vor allem aber verschieben sich Rhythmik und Klangfarben unmerklich, so dass eine Passage, die eben noch vor Erotik pulsierte, plötzlich enorme Spannung ausstrahlt. Genau darum geht es ja in „Luci mie traditrici“ – da fließen Bewusstseins- und Seelenzustände ineinander, meinen die Figuren etwas anderes, als sie sagen, erscheinen einem die Morde am Ende ebenso folgerichtig wie sinnlos. Was auch am großartigen Libretto liegt, das Sciarrino selbst aus einem Drama des frühbarocken Dichters Giacinto Andrea Cicognini destilliert hat: knappste, geschliffene Sätze, die im Dialog oft wie Spiegelbilder aufeinander reagieren und viel Raum für das Ungesagte lassen. Wenn etwa das Grafenpaar zu Beginn sich gegenseitig seiner Liebe versichert, dann klingt das wie auswendig gelernte Poesie. Entsprechend lässt die Musik offen, ob das ernst gemeint ist oder doch nur Bestätigungsfloskeln einer angegrauten Beziehung sind.
Jürgen Flimm schlägt sich als Regisseur eindeutig auf die Seite der „Szenen einer Ehe“. Seine Inszenierung wirkt wie von August Strindberg oder Ingmar Bergman inspiriert – und besticht durch feine Psychologisierung und Figurenführung. Annette Murschetz’ Bühne ist mehr psychologischer als realer Raum, ein hohes Palastzimmer, in dem sich die Zeiten treffen zwischen Miniatur-Burg, Biedermeier und Fin-de-Siècle. Hier steht die Zeit mal still, mal wird sie – in den Zwischenspielen – vom Diener eifrig weitergedreht.
Trotz historisierender Kulisse und ebensolchen Kostümen, die sich frei durch die zentralen Opern-Jahrhunderte assoziieren, sind die Menschen von Heute. Katharina Kammerloher, die oft markante Figuren der zweiten Reihe interpretiert, hat hier ihren prägenden Auftritt als Gräfin Malaspina: Ihr Mezzo flackert beeindruckend entlang der vielfach gebrochenen Gesangslinien, erst nobel-müde im Ehegespräch, dann zunehmend lebhaft erregt beim Flirt, um im entscheidenden Moment in eine glutrote Tiefe abzustürzen. Wie sie und ihre Mezzo-Kollegin Lena Haselmann als amouröser Gast (die Rolle wurde eigentlich für einen Countertenor komponiert) umkreisen, vokal wie körperlich, wie sich die Stimmen durchdringen, als lägen sie schon miteinander im Bett, das ist von einer wunderbar prickelnden Erotik. Kein Wunder, dass die beiden sich so gehen lassen!
Ihre Stimmen sind ebenso Spiegelbilder wie die von Graf und Diener. Otto Katzameier spannt als Malaspina einen weiten Bogen: vom zögernden Sonderling zum entschlossenen Todesengel, dessen Stimme immer leidenschaftlicher, vibrierender, bohrender wird, trotz des Plaudertons der Dialoge. Christian Oldenburg im Harlekinskragen legt seinen aus Eifersucht intriganten Diener als stalkenden Underdog-Buffo an.
Alle vier Solisten meistern ihre Parts großartig, ebenso wie die 21 Musiker der Staatskapelle. Sciarrinos Musik ist verflixt schwer, weil etwa die Flöten oft nur halb anblasen, um den flirrend fahlen Klang zu erzeugen. Und weil all das rhythmisch vertrackte Schaben und Keckern, das Seufzen und Stöhnen ungemein präzis in den Gesamtklang eingetaktet ist. David Robert Coleman, selbst Komponist, erzeugt die perfekte Klangbalance zwischen Graben und Bühne, so dass man schnell vergisst, dass es sich bei „Luci mie traditrici“ um eine Kammeroper handelt und die meiste Zeit im Piano gespielt wird – jeder Ausbruch wirkt da wie eine Explosion. So, wie auch das Finale in Flimms Inszenierung: Da kippt die traumwache Stimmung mit blutigem Symbolismus endgültig in den Alptraum. Ein Alptraum, aus dem man nach 70 Minuten angenehm erschüttert wieder erwacht.