Interview: „Musik ist eine universelle Sprache“
Stardirigent Gustavo Dudamel über sein Verhältnis zu Berlin und die Bedeutung von Orchestern in Krisenzeiten
Die Karriere Gustavo Dudamels wirkt kometenhaft: Mit 18 wurde er Chef des Orquesta Sinfónica Simón Bolívar, mit 28 musikalischer und künstlerischer Direktor des Los Angeles Philharmonic Orchestra. 2017 geht er er mit den Berliner Philharmonikern auf Europatournee, außerdem wird er als jüngster Dirigent aller Zeiten das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker leiten. Bei all dem Erfolg ist der temperamentvolle 35-Jährige auf dem Teppich geblieben. Am 23. September kommt er mit seinem Bolívar-Orquesta zum Musikfest Berlin in die Philharmonie.
Herr Dudamel, Sie sind Dauergast in Berlin, v.a. bei den Philharmonikern und an der Staatsoper. Was bedeutet die Stadt für Sie?
Ich liebe die Stadt. Sie ist so jung! Berlin ist die Stadt, in der ich wahnsinnig viel Zeit verbracht habe, um Dirigieren zu lernen, mit Simon Rattle, Claudio Abbado, Daniel Barenboim. Vieles von dem, was weltweit künstlerisch passiert, passiert gerade hier, und das auf bestem Niveau. Schon als ich noch ein Student war, 2003, 2004, 2005 und ich mich auf den Mahler-Wettbewerb vorbereitete, gab es Orte, wo mich der Pförtner schon kannte, weil ich fast jeden Tag in einer Probe der Philharmoniker saß oder der Staatsoper. Und das in einer Stadt, wo quasi täglich etwas musikalisch Bedeutsames passiert.
Sie kommen mit zwei Meilensteinen des 20. Jahrhunderts nach Berlin. Warum?
Olivier Messiaens „Turangalîla-Sinfonie“ wird nicht oft gespielt wegen der herausfordernden musikalischen Bedingungen. Es ist ein Stück über alles: das Leben, die Liebe, jede Art von Gefühl. Das kombinieren wir mit Heitor Villa-Lobos, der wie kein zweiter für die Kunst Südamerikas steht. „Bachianas Brasileiras Nr. 2“ ist ein sehr solistisches Werk, das sich auf Johann Sebastian Bach bezieht. Das ist das Konzept: ein latino-europäisches Gipfeltreffen des 20. Jahrhunderts.
Mit dabei ist Ihr Orquesta Sinfónica Simón Bolívar, dessen Musiker wie Sie selbst durch El Sistema geprägt wurden, dem einzigartigen Nachwuchsförderprogramm in Venezuela. Was bedeutet Ihnen diese Zusammenarbeit?
Das Orchester ist meine Familie, die mich mein Leben lang begleitet hat. Ich gehe jetzt in meine 18. Saison als musikalischer Leiter, davor war ich lange als Musiker Teil des Orchesters. Das sind meine Brüder und meine Schwestern, meine Söhne und Töchter! Apropos Berlin: Als wir Kinder waren, haben wir die Aufnahmen mit Herbert von Karajan und den Berliner Philharmonikern geschaut, bevor wir zu den Proben gegangen sind. Viele Mitglieder der Philharmoniker sind inzwischen nach Venezuela gekommen, um die jungen Musiker zu unterrichten und mit dem Bolívar-Orchester zu spielen. Es gibt also eine lange Beziehung zwischen dem Orchester und dem musikalischen Leben in Berlin.
Gibt es einen Unterschied, vor dem Simón-Bolívar-Orchester zu stehen und, sagen wir, den Philharmonikern oder der Staatskapelle?
Ich arbeite mit allen Orchestern gleich. Natürlich habe ich zum Bolívar-Orchester einen direkten Draht, schließlich dirigiere ich es, seit ich ein Teenager bin. Wir kennen uns einfach in- und auswendig. Andererseits werden es nächstes Jahr zehn Jahre sein, dass ich zum ersten Mal die Philharmoniker dirigiert habe. Und natürlich ist in diesen zehn Jahren auch hier viel passiert – wir haben eine wundervolle Verbindung. Ähnlich ist das mit der Staatskapelle – die Staatsoper war das erste Haus außerhalb Venezuelas, an dem ich Oper dirigiert habe. Insofern gibt es wirklich keine Unterschiede, wie ich die einzelnen Klangkörper dirigiere, weil ich mit allen schon seit langem vertraut bin. Deshalb arbeite ich auch nur mit einer begrenzten Anzahl von Orchestern – natürlich „meinen“ Orchestern, den Los Angeles Philharmonic und dem Simón Bolívar, daneben mit den Philharmonikern und der Staatskapelle. Das reicht, und ich bin sehr glücklich damit.
El Sistema fasziniert, weil die Geschichte einer Initiative, die Kinder und Jugendliche aus allen Schichten an Musik heranführt und damit sowohl in der Breite als auch in der Exzellenz ungeheuer erfolgreich ist, wie ein Märchen klingt – inklusive Happy End.
Absolut! Ich bin ja ein Teil von El Sistema. Ich bin nicht nur damit aufgewachsen, es hat mich auch als Künstler hervorgebracht! Es ist ein Symbol unseres Landes. Aber nicht nur: In Los Angelos feiern wir in dieser Saison die ersten zehn Jahre unseres YOLA-Projekts, des Philharmonic-Jugendorchesters. Aber auch die Orchester in Deutschland, Österreich, England, Italien haben längst ihre Programme, um junge Menschen an klassische Musik heranzuführen. El Sistema funktioniert auf der ganzen Welt! Man kann die Ergebnisse auch sehen: nicht nur in der Musik, die gemacht wird, sondern auch auf gesellschaftlicher und zwischenmenschlicher Ebene. Nicht alle Menschen, die als Kinder von El Sistema profitiert haben, sind später Musiker geworden. Aber Musik wurde Teil ihres Lebens ebenso wie die Werte, die hier vermittelt werden, ein philosophisches Konzept des Lebens, in dem das harmonische Miteinander eine äußerst wichtige Rolle spielt.
Venezuela durchlebt gerade eine schwere politische Krise: Die Läden sind leer, den Krankenhäusern gehen die Medikamente aus, gegen den Präsidenten läuft ein Abwahl-Referendum. Wie wichtig ist Kunst, wenn Menschen hungern?
Sehr, sehr wichtig. Wir müssen uns klarmachen, dass Musik eine universelle Sprache ist, die jeder versteht. Die Situation in unserem Land ist gerade wirklich sehr schwierig, ein sehr komplexer Moment. Aber auch die Probleme auf der ganzen Welt sind gerade sehr komplex. In einer Zeit, in der Menschen das Trennende betonen, hilft Musik, sie wieder zusammenzubringen. In Venezuela zum Beispiel, wo die Menschen politisch gerade extrem polarisiert sind, sitzen Menschen in einem Konzertsaal zusammen, die politisch entgegengesetzter Meinung sind, unterschiedliche wirtschaftliche und religiöse Hintergründe haben. Das betrifft das Publikum wie die Orchestermitglieder. Das ist ein wunderschönes Symbol der Einheit!
Wie sieht die Situation im Orchester denn konkret aus? Wird in den Probenpausen viel diskutiert? Oder konzentrieren sich alle nur auf die Musik?
Die Situation ist natürlich schwierig und bringt sehr vielschichtige Gefühlslagen und Konflikte mit sich. Aber ich muss sagen, dass El Sistema immer noch funktioniert. In einem so kritischen Moment brauchen Menschen Hoffnung. El Sistema ist in Venezuela ein Symbol der Hoffnung. Wir geben weiter Konzerte, touren, arbeiten daran, dass unsere verschiedenen Orchester besser werden.
Wie Sie schon gesagt haben: Die ganze Welt scheint gerade aus den Fugen. Ist klassische Musik eine Antwort auf die Ängste und Unsicherheiten unserer Zeit?
Musik und Kunst spielen gerade eine wichtigere Rolle denn je. Oft ist es so, dass Kunst das erste ist, woran die Menschen in Krisenzeiten sparen. Ein völlig falsches Konzept! Letztlich brauchen die Menschen ein inklusives Kunsterlebnis. In Berlin gibt’s zum Beispiel die Philharmonie für über 2000 Menschen und die Waldbühne für über 20.000. Das sind 20.000 Menschen, die Musik hören – zusammen, ohne Trennung. Das ist ein Hoffnungszeichen. Wir müssen die Chance nutzen, noch mehr Menschen zusammenzubringen!
Messiaen schrieb seine „Turangalîla-Sinfonie“ unmittelbar nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. Als er gefragt wurde, worum es in seinem Werk gehe, sagte er: Es ist eine Liebesgeschichte. Ist Liebe die Antwort?
Ja. Die Turangalîla-Sinfonie handelt ja nicht nur von Liebe, sondern auch von Schönheit. Und sie macht deutlich, wie wichtig Kunst ist angesichts aufeinanderprallender Weltkonzepte. Das ist der Grund, warum wir gerade jetzt die „Turangalîla“ spielen: Weil wir die Botschaft von Schönheit, Liebe, Hoffnung in die Welt bringen wollen. Schließlich ist Hoffnung das, was wir in Krisenzeiten am meisten brauchen. Und die haben wir im Gepäck.