Opernkritik: Mit Figaro im Chatroom
Kirill Serebrennikov inszeniert Rossini an der Komischen Oper als Lovestory in Zeiten der sozialen Medien
Eigentlich ist alles klar: Er liebt sie, sie liebt ihn, ein gemeinsamer Fluchtplan längst geschmiedet. Nur wenige Schritte trennen sie, dennoch kommen Rosina und Almaviva nicht zusammen. Bis sich Figaro endlich ihre Handys schnappt. Noch immer starren sie schräg nach unten, bewegen sich ihre Finger im Leerlauf. Dann erst werden sie einander gewahr – nicht mehr als Message-Adressaten. Sondern als leibhaftige Menschen in all ihrer Schönheit – und Anfälligkeit.
Es ist einer von vielen Momente in Kirill Serebrennikovs Inszenierung von „Il barbiere di Siviglia“, die beides sind: irrsinnig komisch und zutiefst traurig. Denn der russische Regisseur macht an der Komischen Oper aus Gioachino Rossinis Bühnenhit von 1816 eine bitterbös witzige Abrechnung sowohl mit den Ewiggestrigen als auch mit den Jungen, diesen New-Media-Aufmerksamkeitsgestörten. Schon zur Ouvertüre zücken zwei Jungs auf der Bühne die Handys. Almaviva und sein Diener Fiorello geben dem Dirigenten Chat-Hinweise à la „Geht’s nicht ein bisschen schneller?“, die auf die Bühnenwand projiziert werden.
Da sitzt das Orchester der Komischen Oper noch erhöht in der Mitte der Vorbühne, ebenso in Zivil wie Dirigent Antonello Manacorda. Der lässt sich von den hibbeligen Berufsjugendlichen nicht beirren. Mit inszeniert großen Maestro-Gesten treibt er seine Musiker zu einem engagierten Rossini-Klang an, dem es allerdings zuweilen an filigranen Gesten und Finesse mangelt. Aber er passt zu den handfesten Vorgängen auf der Bühne.
Schließlich ist die Ouvertüre hier nur das Vorspiel zum Ständchen an Rosina, das Almaviva aufnimmt und online verschickt. Ihr Vormund Bartolo hält sie gefangen, will sie wegen ihrer Mitgift heiraten. Wie von nun an der Chat die Rolle eines Metatextes aus Emoticons und zusätzlicher Übertitelung (gesungen wird auf Italienisch) übernimmt, wie Facebook-Profile aufpoppen und Videos sowohl den Kontakt in Rosinas Gefängnis ermöglichen als auch die Überwachung Bartolos symbolisieren, ist ein genialer Regieschachzug. Der löst sich allerdings nur deshalb ein, weil auf der Bühne mit einer Lässigkeit agiert wird, wie man das in Berlin derzeit nur an der Komischen Oper erleben kann.
Dass Bartolo von Gestern ist, zeigt ein Blick in seine Stube: voller wertvollen Antiquitäten, eine Krempel-Sammlung, in die er offenbar Rosina einsortieren will. Weder hat er Ahnung von ihren Bedürfnissen noch von den sozialen Medien. Das kostet ihn den Sieg. Sein Helfer Basilio wiederum ist ein echter Weltverschwörer mit Aluhut. Als Almaviva als Soldat verkleidet kommt – hier: mit Muslimkappe und langem schwarzen Bart – geht für die beiden Alten das Abendland unter, während Rosina demonstrativ ein „Refugees welcome“-Schild vor sich herträgt. Dafür gibt’s Szenenapplaus.
Allerdings sind die Jungen letztlich nicht besser. Am Ende ist Rosina von Almavivas Edelmarken-Geschenken noch überzeugter als von seinen amourösen Qualitäten. Während sie zur gelangweilten High-Society-Lady mutiert, hat er als smarter Manager gleich wieder ein Handy am Ohr. Wie schnell aus Hipstern neue Konservative werden, lässt sich in Berlin ja besonders gut beobachten.
Vieles davon steht übrigens in Rossinis Partitur (mit der hier zuweilen ziemlich frei umgegangen wird). Er zeigt uns Menschen als musikalisch fremdgesteuerte Wesen, als ziemlich egoistische Typen, die Begehrlichkeiten haben und alles daran setzen, sie zu befriedigen. Almaviva und Rosina sind ja kein hehres Liebespaar, sondern ein eher oberflächlicher Lebemann und eine durchaus zu Boshaftigkeit neigende Schönheit. Und Figaro? Ist ein eiskalter Abzocker und bei Dominik Köninger ein extrem cooler, hipper Berlin-Mitte-Typ mit Tunnel-Ohrlöchern und Männerdutt. Ein ambivalenter Charakter, trotz seines herrlich markanten Bariton-Timbres. Bei seiner berühmten Auftritts-Cavantine steigt er aus dem 1. Rang auf die Bühne herab, und dass er hier mit Tempo und Flexibilität nicht ganz mitkommt – geschenkt angesichts des raumgreifenden Furors, mit dem er sich als Meisterregisseur des Abends erweist.
Fürs Rossini-Glück ist ohnehin Nicole Chevaliers Rosina zuständig. Mit welcher mühelosen Coolness sie ihre Koloraturen jongliert, dabei aber auch eine Wärme und Sehnsucht durchblicken lässt, die klüger ist als ihre Rolle, berauscht ebenso wie der Moment, als sie sich von Almaviva verraten glaubt und aus Trotz in die Hochzeit mit Bartolo einwilligt – einer der weniger glaubhaften Momente der Oper. Da strahlt ihr bockiges Girl eine apathische Verlorenheit aus, die einen diesen absurden Schritt begreifen lässt.
Weniger Möglichkeiten zur Tiefe hat Tansel Akzeybeks Almaviva. Seine Ständchen-Cavatine zu Beginn klingt angestrengt in den Höhen und unsauber in den Verzierungen. Aber wie er danach zum Schnulzensänger mutiert (großartig, wie lässig eine E-Gitarren-Begleitung Rossini ins Heute holt) und hibbelig über die Bühne tigert, halb Spaßvogel mit Lust an der Herausforderung, halb jugendlicher Liebhaber, passt ebenso hervorragend in diesen Abend wie Philipp Meierhöfers schmieriger Bartolo, der sich den Parlando-Herausforderungen seiner Rolle beeindruckend gewachsen zeigt.
Das alles ist ein riesiger, oft überfordert brodelnder Spaß, überzeugend bis in die Nebenrollen (Julia Giebel, Denis Milo). Allerdings kriegt Serebrennikov immer wieder die Kurve zu bitteren Erkenntnissen, was den Abend wohltuend von der Konkurrenz an der Staatsoper (Ruth Berghaus’ Meisterinszenierung von 1968) und der Deutschen Oper (Katharina Thalbachs derber Scherz von 2009) abhebt. Etwa die, dass der Kampf von Anfang an ein ungleicher ist, weil Almaviva die höhere gesellschaftliche Stellung und mehr Kohle besitzt. Und dass die Jugend Bartolo konsequent in den Wahnsinn treibt. Besonders eindrücklich pinselt das Serebrennikov zum Finale des ersten Akts aus, als der hervorragend singende und spielende Männerchor in Fantasiekostümen auf die Bühne kommt – Geistervisionen eines Mannes, der allmählich durchdreht. Am Ende hängt Bartolo über dem kaputten, dissonant pfeifenden Leierkasten, ein ausgebrannter Augustin. Und der Kollateralschaden einer Marken- und Marktschlacht, in der es nur Verlierer gibt.