Opernkritik: Dampfkessel der Emotionen
„Medea“ an der Komischen Oper: Nicole Chevalier ist die ideale Besetzung für Aribert Reimanns „Medea“. Ihr Gesang zieht den Zuhörer in den Bann.
Es gibt Mythen, die wirken rasend aktuell. Wie der Mythos von Medea, der kolchischen Königstochter, die Jason nach Griechenland folgt, wo sie als Fremde auf Ablehnung stößt. Als sich Jason von ihr abwendet und ihr die Kinder nehmen will, bringt sie sie um. Gerade wird der Stoff oft gespielt, die Urfassung von Euripides ebenso wie die Variante von Friedrich Grillparzer, der nachvollziehbar macht, was Medea in die Raserei treibt: der soziale Druck, die Ausgrenzung, jeder Satz ein Nadelstich: „Nimm die Tracht unseres Landes. Sei eine Griechin!“
Auch beim Berliner Aribert Reimann, einem der meistgespielten zeitgenössischen Opernkomponisten, der Grillparzers Text für seine 2010 in Wien uraufgeführte „Medea“ geschickt zusammenstrich. Seine Titelfigur singt in gebrochenen Koloraturen und krassen Sprüngen, ein Dampfkessel der Emotionen, der stoßweise Druck ablässt. Dass sich jetzt die Komische Oper des Werkes angenommen hat, liegt genau an dieser Kraft, die ebenso aus den zutiefst menschlichen Gesangslinien kommt wie aus einem Orchesterklang, der fremd und vertraut zugleich kommentiert und ausspürt, oft erstaunlich kammermusikalisch, dann wieder eruptiv auflodert. Da knallen einem die Schläge auf die Celli-Stege um die Ohren, da singen die Tamtams verführerisch ihre exotische Weise – schließlich ist schon bei Grillparzer das Helle dunkel und das Dunkle hell.
Es dürfte aber auch daran liegen, dass die Komische Oper mit Nicole Chevalier eine Idealbesetzung für die Medea besitzt. Ihr Gesang verströmt eine Dringlichkeit, die einen vollkommen bannt. Schließlich lässt sich Reimanns Medea in der Intensität der Gefühlsaufwallungen mit Richard Strauss‘ Hysterikerinnen Salome und Elektra vergleichen: Frauen unter Druck, am Rande des Nervenzusammenbruchs. In diesem Fall: in die Ecke gedrängt von der Gesellschaft, verraten von einem Mann, für den sie alles geopfert hat, ja mitschuldig geworden ist am Tod des Bruders.
Dabei beeindrucken die Stimmlinien auch durch ihre ausgestellte Kunstfertigkeit, wie im Duett Medeas mit ihrer Nebenbuhlerin Kreusa: ein wortloses und zugleich vielsagendes Gegeneinander-Ansingen, ein Stimmenduell zweier Alpha-Frauen, das keine gewinnen kann. Bei Chevalier und Anna Bernacka entwickelt sich ein vokales Feuerwerk, das schon Kreusas Feuertod in sich birgt. Und auch die Reibung zwischen Medea und Jason fasziniert, den Günter Papendell als Kerl zeichnet, der sein Stück vom Kuchen abhaben will, ohne die Zweifel, die kurz aufscheinenden Gewissensbisse zu ignorieren – dazu ist sein Bariton ohnehin zu sensibel temperiert.
Was wäre das für ein Traumpaar, wenn sie sich einander nicht an die Gurgel gehen würden! Nadine Weissmann beeindruckt als uneindeutig zwischen Einflüsterin und Mahnerin pendelnde Gora. Nur Ivan Turšić als Kreon ist mehr damit beschäftigt, die schwierigen Sprünge zwischen Brust- und Kopfstimme zu bewältigen, als die Rolle des fremdenfeindlichen Königs zu gestalten.
Dafür, dass einen die Geschichte unmittelbar angreift, sorgen auch Regisseur Benedikt Andrews und Bühnenbildner Johannes Schütz. Ihr Griechenland ist ein zeitloser Ort, eine nahezu leere Bühne, mit Mulch bedeckt bis an die Brandmauer, vor der eine lange Bank steht. Hier warten die Sänger auf ihren Einsatz, was das Epische, das Beispielhafte des Dramas betont. Vorne ist Medeas Reich, ein Haus aus Fäden, eher Gedankenkonstrukt denn realer Rückzugsort, dahinter eine halbhohe Mauer. Darüber zieht eine kalte Neonsonne ihre Bahn.
Ihre Dialoge singen die Figuren dabei oft in Richtung Publikum, und das hat nichts mit Rampenstehtheater zu tun, sondern mit dem epischen Gestus, der Versuchsanordnung. Zu der passen auch Suse Wächters anrührend lebensechte Kinderpuppen, die immer so reagieren, wie sie von den Erwachsenen angefasst und geführt werden. Oder jener Moment, als der Herold des griechischen Städtebund-Gerichts Jason und Medea anklagt, Jasons Onkel ermordet zu haben: Da packt Eric Jurenas, der über einen betörend schönen und nuancenreichen Countertenor verfügt, als wütende Dragqueen Masken aus ihren Plastiktüten, mit denen die Anwesenden den Fall nachstellen.
In manchem allerdings schießt Andrews übers Ziel hinaus. Gerade gegen Ende, wenn Chevalier mit dem Messer auf die Kinderpuppen losgeht und ein Kreusa-Double brennend über die Bühne stolpert, wirken diese Bilder viel schwächer, ja hilflos angesichts der ungeheuerlichen Vorgänge, die bei Grillparzer im Verborgenen und bei Reimann in der Musik geschehen. Das ist so erschütternd vertont, da braucht es keine Doppelung. Zumal beim Orchester der Komischen Oper: Steven Sloane lotet umsichtig die volle Bandbreite dieser Partitur aus, lässt es ohrenbetäubend gellen, nahezu lautlos pulsen, gibt den Sängern Raum. Zum Schlussapplaus erschien der 81-jährige Aribert Reimann auf der Bühne, umarmte alle Beteiligten – und wurde zu Recht so stürmisch bejubelt wie sonst nur Nicole Chevalier.