Rückblick: Rückkehr der alten Recken
Die Berliner Opernsaison konnte mit einer Reihe gelungener Premieren das Publikum überraschen
mit Volker Blech
Richtig aufregend wurde es kurz vor Ende der Berliner Opernsaison, allerdings jenseits des Künstlerischen. Es ging um den Sanierungsfall Staatsoper. Ausgerechnet im fernen München war bekannt geworden, dass die Wiedereröffnung am 3. Oktober wackelt. Der Bauherr, die Senatsbauverwaltung, hüllte sich daraufhin wieder einmal in tiefes Schweigen, die Kulturverwaltung gab kryptische Erklärungen ab. Bei der Pressekonferenz Wochen später auf der Baustelle Unter den Linden wurde schließlich bestätigt, was inzwischen die Spatzen von den Dächern pfiffen: eine Wiedereröffnung auf Raten. Nach einem Präludium rund um den 3. Oktober herum wird das Opernhaus wieder geschlossen und am 7. Dezember wirklich eröffnet. Peinlich!
Der Vorgang ist insofern wichtig, weil das Ensemble seit sieben Jahren im Schiller Theater an der Bismarckstraße ausharrt. Dort beginnt heute mit der Premiere von Wolfgang Rihms Kammeroper „Jakob Lenz“ das Rausschmeißer-Festival „Infektion!“. Derweil packen die Opernleute bereits ihre Umzugskartons. Am 31. Juli wird das Schiller Theater offiziell übergeben.
Die Saison hatte mit einer bemerkenswerten Nachricht rund um die Komische Oper begonnen: Hausherr Barrie Kosky war bei der alljährlichen Umfrage der Fachzeitschrift „Opernwelt“ unter 50 Kritikern aus Europa und den USA zum „Regisseur des Jahres“ gewählt worden. Den Titel bekam Kosky allerdings nicht für eine Inszenierung an der Komischen Oper, sondern für seinen Zürcher „Macbeth“. Die Kritiker würdigten Koskys dämonisch klare Lesart der Verdi-Oper. Der Titel schmückt Berlin.
Für den Berliner Saisonhöhepunkt sorgte diesmal aber nicht Kosky, sondern ein höchst lebendiger Toter: Meisterregisseur Patrice Chéreau hatte seine „Elektra“, eine Koproduktion, 2013 in Aix-en-Provence herausgebracht. Kurz darauf verstarb er. Jetzt kam die „Elektra“ endlich nach Berlin an die Staatsoper, in einer erstklassigen Besetzung. Auch wenn Legenden wie Cheryl Studer und Waltraud Meier nicht mehr ganz bei Stimme sind – wie sie ihre Rollen gestalten, geht unter die Haut. Sowohl die musikalische als auch die szenische Umsetzung ist absolut zwingend. Selten erlebte man eine Opernpremiere, in der die Hauptpartien so überwältigend vollkommen gestaltet wurden wie hier: Evelyn Herlitzius als Elektra, Adrianne Pieczonka als Chrysothemis, Michael Volle als Orest. Dazu Daniel Barenboim und seine Staatskapelle, die Richard Strauss‘ Hysteriemusik gleichzeitig aufpeitschten und kunstvoll bändigten.
Selten ging der Versuch des Noch-Intendanten Jürgen Flimm auf, sowohl auf der Bühne als auch am Regiepult die alten Recken zu versammeln. Bei Harry Kupfers „Fidelio“, der seine eigene Inszenierung an der Komischen Oper von 1997 recycelte, funkte es ebenso wenig wie bei Flimms aseptischer „Manon Lescaut“ im Hollywood-Milieu. Die Staatsoper steuerte denn auch den Tiefpunkt der Saison bei, Hector Berlioz‘ „La Damnation de Faust“ (Fausts Verdammnis). Regie führt mit dem US-Amerikaner Terry Gilliam noch so ein alter Recke, Mitbegründer der britischen Comediangruppe Monty Python, der neben Filmsatiren wie „Die Ritter der Kokosnuss“ auch Dystopien wie „12 Monkeys“ mit Bruce Willis drehte. Aus dem Faust-Stoff macht er ein Nazi-Spektakel, bei dem Hakenkreuz, Hitlergruß, Braunhemden und schwarze Uniformen zur Grundausstattung gehören. Viele starke Bilder, aber nichts dahinter. Allein Simon Rattle rettete am Pult die Aufführung.
Apropos alte Meister: Am Pult funktioniert das Staatsopernprinzip auch in dieser Saison hervorragend. Denn neben der „Elektra“ wurde auch die andere Strauss-Premiere „Die Frau ohne Schatten“ zum Glücksmoment, weil Zubin Mehta jedes Detail der Partitur herausarbeitete, die Musik aber zugleich von einer Sinnlichkeit vibrierte, die einem den Atem raubte.
Auch an der Deutschen Oper prägten die alten Recken die Saison. David Alden bewies in seiner Inszenierung von Giacomo Meyerbeers „Hugenotten“, dass da – anders als nach „Vasco da Gama“ zu befürchten stand – eine Wiederentdeckung lohnt, wobei er mit Juan Diego Flórez ein starkes Pfund zum Wuchern hatte. Graham Vick zeigte – ebenfalls mit einem Sängertrumpf, dem famosen Paul Nilon – eine überzeugende Lesart von Benjamin Brittens „Tod in Venedig“. Damit wetzte er die Scharte aus, die der aufrichtige, aber gescheiterte Versuch hinterließ, mit „Edward II.“ eine schwule Oper zu komponieren.
Und von einer langen Haustradition verabschiedete man sich an der Deutschen Oper: Götz Friedrichs Inszenierung von Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ aus den 80er-Jahren wurde zum letzten Mal aufgeführt. Friedrichs Berliner „Ring“-Inszenierung gilt neben dem Bayreuther „Jahrhundertring“ von Patrice Chéreau als eine der bedeutendsten Opernproduktionen des 20. Jahrhunderts. Sie hatte lange Jahre Kultstatus, und auch die letzten Vorstellungen waren restlos ausverkauft. Die Brünnhilde der Evelyn Herlitzius wurde bejubelt, Eva-Maria Westbroek als Sieglinde vom Publikum geradezu geliebt. Donald Runnicles am Pult dirigierte Wagner ohne jede Art musikalischer Manipulation. Das war wohltuend.
Runnicles wird auch den neuen „Ring“ ab 2020 leiten. Die Inszenierung übernimmt der Norweger Stefan Herheim. Der schwelende Konflikt, dass zeitgleich auch Daniel Barenboim einen neuen „Ring“ an der Staatsoper machen wollte, wurde in dieser Saison beigelegt. Barenboim verschiebt seinen Staatsopern- „Ring“.
Zurück zu Barrie Kosky und der Komischen Oper: Während der Hausherr anderswo auf der Welt Preise sammelte und dann gegen Saisonende Richtung Bayreuth verschwand, wo am 25. Juli seine Version der „Meistersinger von Nürnberg“ Premiere hat (Die Premiere wird live ins Kino übertragen), lieferte er an seinem Haus mit „Die Perlen der Cleopatra“ ein reizendes Starvehikel für die sich selbst übertreffende Dagmar Manzel ab, außerdem den merkwürdig krawalligen „Jahrmarkt von Sorotschinzi“. Den Höhepunkt der dortigen Saison steuerte hingegen Kirill Serebrennikow mit seiner Inszenierung vom „Barbiere di Siviglia“ bei. Lustvoll greift er darin das Netzverhalten der Gegenwart auf, verspielt, gewitzt und mit klugem Dreh am Schluss. Hier triumphierte Ausnahme-Sängerdarstellerin Nicole Chevalier als Rosina ebenso wie später als Aribert Reimanns „Medea“. Eine Rolle, mit der sie nicht nur ihre Klasse bewies, sondern auch, wie packend und zugänglich zeitgenössisches Musiktheater sein kann.