Opernkritik: Märchenhaftes Augenklappern
Vieles wirkt handwerklich unfertig, wie selbstgebastelt: Achim Freyer inszeniert „Hänsel und Gretel“
Im Märchenwald, da gibt’s Gespenster. Ein Wolf mit großem Maul irrt herum, eine elegante Dame mit Totenschädel, selbst ein Hai mit fiesen Zähnen und Krone auf dem Kopf hat es hierher verschlagen. Gruselig ist das, komisch auch. Vor allem aber psychologisch: der Wald als Gegenwelt der Realität, als Möglichkeitsraum und Traumland, in dem die Menschen ihre Ängste und Wünsche verarbeiten.
Ängste haben die Menschen in Engelbert Humperdincks Märchenoper „Hänsel und Gretel“ von 1893 reichlich: Der Vater sorgt sich um seine Kinder, die wiederum die hereinbrechende Nacht im Wald fürchten lässt. Und natürlich die Knusperhexe, die ziemlich schnell klarmacht, was sie von Hänsel und Gretel will. An der Staatsoper hat jetzt Achim Freyer, der Bildermann unter den Regisseuren, pünktlich zur Vorweihnachtszeit die Oper inszeniert und designt. Dass seine Arbeit durch die lange Pause nach dem Auftakt im Oktober nun zur ersten richtigen Premiere in der neu eröffneten Staatsoper wird, hat schon seine Richtigkeit. Freyer gehört zu den großen Kontinuitäten am Haus – immer noch läuft hier „Der Barbier von Sevilla“ von 1968 in seiner Ausstattung.
Seitdem ist viel passiert, auch bei Freyer. Er hat zum Beispiel die Masken für sich entdeckt, den Zirkus, und beides in vielen Inszenierungen erprobt. Auch hier tragen Hänsel und Gretel riesige Köpfe aus Draht, mit großen Kulleraugen, die sich mit kleinen Stäben bewegen lassen, sodass der Lausbub Hänsel oft die Augen verdreht, wenn Gretel etwas erklärt, während Gretels Pupillen meist dahin wandern, wo die mögliche Gefahr lauert.
Süß ist das. Oder auch gruselig, wenn die Hexe erst als mehrteiliges Monstrum über die Bühne wankt mit riesigen Händen, die die Kinder greifen, dann mit Wurstlippen und Bonbon-Augen über die Bühne wuselt. In der Typisierung kommt allerdings nur bedingt das Typische zum Vorschein. Die Inszenierung erinnert mit seinen holzschnittartigen Charakterisierungen an Figurentheater, in dem persönliche Noten vor allem über die Stimme möglich sind.
Mustergültig gelingt das Elsa Dreisig als Gretel. Ihr Sopran leuchtet und vibriert intensiv, existenziell, ob in der Freude oder der Angst – und überstrahlt mühelos alles. Dabei bleibt sie lyrisch und liedhaft klar. Das gelingt auch Katrin Wundsams Hänsel, die allerdings immer mal wieder im Klangrausch untergeht. Roman Trekels Vater zeichnet mit seinem markanten Bariton einen federnd vitalen Besenbinder, der herumlaufen muss wie eine Jägerkarikatur. Marina Prudenskayas Mutter mit strengem Dutt und spitzen Lippen darf nur die Arme heben und senken – allein die Hysterie in ihrer Stimme verrät ihre Wut, später die Angst. Stephan Rügamers Hexe wiederum muss intensiv über harte Konsonanten arbeiten, um durchzudringen. Zumal Freyer so fragwürdige Ideen hat wie die, ihn erst mal aus der Kulisse singen zu lassen.
Dabei dirigiert Sebastian Weigle die Staatskapelle äußerst sängerfreundlich, die ohnehin beinahe gedeckelt spielt, im tiefergelegten, von einem Steg umgebenen Graben. Hier entfacht Weigle einen warmen Sehnsuchtsdrive, der in seiner schlichten Schönheit unmittelbar berührt. Alle Nuancen dieser farbreichen Partitur leuchten auf, all die Details wie Vogelstimmen und Leitmotive, ohne je die liedhaften Melodien in den Hintergrund zu drängen. Das klingt oft märchenhafter, als es auf der Bühne aussieht, die meist vollgemüllt ist wie ein Kinderzimmer. Ein schwarzer Kasten, über dessen Wände immer neue Kreide-Kritzeleien huschen, die wirken, als wäre der sozialistische Realismus aus DDR-Kinderbuch-Illustrationen explodiert. Im Traum- und Waldesrauschen hebt sich die hintere Wand, da kommt plötzlich der Zirkus als weitere Gegenwelt ins Spiel. Hier aber zeigen sich die Grenzen des Abends.
Vieles wirkt handwerklich unfertig, selbstgebastelt. Wenn die Stoffbahnen mühsam übers Hexenhaus gehievt werden, wenn ein Harlekin und ein Vogel mit einem Bettlaken voller Kritzeleien und der Aufschrift „Gute Nacht“ über die Bühne schlurfen, wenn die Vogelköpfe, die sich am oberen Bühnenrand aufklappen, an der Verkleidung entlangschrappeln, dann kann man das liebenswert imperfekt finden. Oder unprofessionell. Gelungen hingegen ist die Ofenszene. Da lodert das Feuer über die ganze Wand, in der die Hexe verschwindet. Plötzlich eine Explosion – und auf die Bühne stürzen die Lebkuchenkinder, schwarz verkohlt. Erst, wenn sie zu singen beginnen – und der Kinderchor der Staatsoper macht das hinreißend differenziert! -, schälen sie sich aus ihren schwarzen Overalls und laufen nun als lauter kleine Hänsel und Gretel in bunten Pussy-Riot-Masken herum. Drüber verkündet ein Schild „Revolutio“. Was wie die Hoffnung darauf wirkt, dass sich die junge Generation schon gegen die Verführungen von Macht und Konsum durchsetzen wird, heißt im Lateinischen schlicht: Rückkehr.