Opernkritik: Falstaff in Lederjacke
Alt-68er tummeln sich an der Staatsoper: Regisseur Mario Martone siedelt die Verdi-Komödie im Kreuzberger Hinterhof an
Wild geht es zu unter der großen Eiche von Windsor: Vor der beeindruckenden Kulisse einer Industrieruine fummeln und vögeln hier Männer und Frauen herum, als wären sie frisch dem Kit Kat-Club entsprungen – in Lackstiefeln, Lederröcken, Netzoberteilen, manche auch mit lustigen Fantasy-Hörnern auf dem Kopf. Ist natürlich alles streng choreografiert und nicht allzu nackt, schließlich sind wir bei den Festtagen der Staatsoper, da reichen im Zweifelsfall Andeutungen.
Überhaupt bemüht der italienische Film-, Theater- und Opernregisseur Mario Martone bei seinem Berliner Regiedebüt mit Giuseppe Verdis „Falstaff“ allerlei Berlin-Klischees. Falstaff ist bei ihm – Achtung: Jubiläum! – ein Alt-68er, der sich auf den angeranzten Bierbänken in seinem Kreuzberger Hinterhof volllaufen lässt und fröhlich kifft, während seine Co-Kommunarden Bettlaken mit Slogans besprühen. Die Werkstätten der Opernstiftung haben ganze Arbeit geleistet: Wild blättert der Putz, die Graffiti sind ziemlich verblasst, die Tür zum Eingang der Kneipe „Panorama Bar“ wirkt wie ein Kater-Versprechen.
Bei Shakespeare – und später bei Verdi – ist Falstaff ja eine tragikomische Figur, ein vitaler, übergewichtiger Ritter, an dem die Zeit längst vorübergegangen ist, ohne dass er es bemerkt hätte. Entsprechend geziert wirbt er um Alice Ford und Meg Page, um sich noch einmal als Don Juan zu inszenieren. Dass er dabei aber auch in eine Wunde des aufkommenden Bürgertums piekt – die Ehre! – , macht die Komödie vielschichtig. Denn auch der reiche Bürger Ford wird gehörnt, wähnt sich zunächst als betrogener Ehemann und muss am Ende Tochter Nanette und ihrem Geliebten Fenton den Segen geben, statt sie wie geplant mit dem Langweiler Dr. Cajus zu verheiraten.
Martone deutet Falstaff im Programmheft als Figur des Übergangs, einen jener Generation, die noch für Europa kämpfte, während die heutige nur noch aufs Geld schaut, Menschen ausgrenzt und Europa verspielt. Entsprechend haben sich Bühnenbildnerin Margherita Palli und die Werkstätten auch bei den Fords richtig ins Zeug gelegt: Da gibt’s einen echten Pool, in dem sich anfangs die Sängerinnen im Bikini räkeln, während im Spa-Bereich nebenan gebräunte Möchtegern-Bodybuilder Gewichte stemmen. Reiche, oberflächliche Spießer, die es sich leisten können, andere Leute zum Gespött zu machen.
Die Aufteilung in Kreuzberger Hinterhof, Luxus-Spa und Swinger-Cruising-Industrieruine allerdings wirkt letztlich ein wenig beliebig – und als Berlin-Fantasie selbst ziemlich spießig. Immerhin besitzt Martone ein Händchen für die Figurenführung – wichtig für Verdis letzte, 1893 uraufgeführte Oper voller spannender Charaktere. In Michael Volle findet er ohnehin die Idealbesetzung für die Titelfigur. Wie sehr dieser Ausnahmesänger mit seinen Rollen verschmilzt, hat man in Berlin schon oft erleben können, zuletzt als Orest in „Elektra“. Wenn er als Falstaff Weib und Wein preist, strömt es warm, drischt er Phrasen, röhrt es hohl, wenn er spottet, klingt er ölig, nölt und fiepst im Falsett.
Volle ist zudem ein Bühnentier, ein Menschendarsteller, jede Geste Teil eines komplexen Charakters. Sein Falstaff ist keine Knallcharge wie sonst so oft, sondern ein etwas aus dem Leim gegangener Kerl in Lederjacke, zu engem T-Shirt und Jeans, der sich einerseits für unwiderstehlich hält, andererseits die Sache spielerisch angeht, einstecken kann, sich selbst nicht zu ernst nimmt. Seine Charaktergröße bewährt sich im Finale, als er mit seinem Lachen über sich selbst auch die anderen ansteckt, obwohl er gerade fies verprügelt wurde.
Die Frauen wiederum strafen Martones Spießerinterpretation Lüge, dazu sind sie schon bei Verdi viel zu lustige Gesellinnen, und wenn Daniela Barcellona hier als Mrs. Quickly erst Falstaff nachäfft, ihm zunehmend lustvoll Honig ums Maul schmiert und dann auf dem Motorrad davonbraust, dann verzeiht man dieser coolen Mutti auch die etwas spitzen Höhen. Verschwenderischen Wohlklang verströmen Barbara Frittoli als Alice Ford, Katharina Kammerloher als Meg Page und Nadine Sierra als Nannetta, zumal bei ihr und Francesco Demuros Fenton der emotionale Glutkern der Oper liegt – ihre vielen kleinen Liebesduette und Verzweiflungsausbrüche sind zum Hinschmelzen. Sie alle bilden auch eine verschworene Läster-Clique, die einen diebischen Spaß an Verdis vertrackten Rhythmen hat, ihr Durcheinanderquasseln, ihre Lachorgien. Klappt nicht immer, ist dann aber hinreißend schön.
Alfredo Dazas etwas steifer Bariton wiederum passt ganz gut zum ehrpusseligen Ford. Nur Jürgen Sachers spitzer, farbloser Tenor fällt unangenehm auf, auch wenn er mit Dr. Cajus‘ beigem Altherren-Anzug korrespondiert. Das Beeindruckende an Verdis späten Opern ist neben den anspielungsreichen und gewitzten Libretti der komplexe, dauerkommentierende Orchesterpart. Daniel Barenboim kitzelt mit seiner Staatskapelle lustvoll die vielen parodistischen und satirisch zuspitzenden Momente heraus, die Travestien religiöser Melodien, das Spuk- und Sprunghafte des Geister-Finales. Darunter aber spannt er einen warmen Grundton, ein waches Wirken und Weben, das diesen Abend trägt: das menschenfreundliche Lächeln eines altersweisen Komponisten.