Porträt: Die Kluft zwischen dem Ungesagten
Am Montag wird der Regisseur Bastian Kraft mit dem Friedrich-Luft-Preis 2018 ausgezeichnet
Riesig geistern die Schatten über den kahlen Rundhorizont im Deutschen Theater, lösen sich von den Gesten der Schauspieler, verselbstständigen sich. Doppelgänger sind sie, Spiegelungen, die zeigen, was die Figuren nicht preisgeben wollen. Willy Loman, der zu fest an den Amerikanischen Traum und das Wunder des Kapitalismus glaubt und dabei vor die Hunde geht. Seine Frau Linda, die verzweifelt an die Familie glaubt. Biff, der ältere Sohn, der den Glauben an den Vater längst verloren hat und sein Leben deshalb nicht auf die Reihe kriegt. Happy, der nichts begreift, weil hier niemand Tacheles redet – allenfalls die Schatten.
Neben Ulrich Matthes‘ Willy Loman sind die Schatten die Hauptdarsteller in Bastian Krafts Inszenierung von Arthur Millers Drama „Tod eines Handlungsreisenden“, für die er heute Abend den Friedrich-Luft-Preis 2018 erhält. Seit 2012 arbeitet er regelmäßig am Deutschen Theater (DT), aber auch an den großen Häusern in Hamburg, München, Zürich, Köln. „Das Tollste an diesen Theatern ist, dass ich mit großartigen Schauspielern arbeiten kann, vor denen ich richtiggehend Hochachtung habe“, sagt Kraft. Seine Inszenierungen sind meist Publikumslieblinge, weil er die Geschichten nicht nur andeutet oder auseinandernimmt, sondern erzählt. Und weil – trotz der starken formalen Zugriffe – die Schauspieler im Mittelpunkt stehen.
Groß ist Kraft, an die zwei Meter, und wirkt doch jungenhaft mit seinen Knopfaugen, den leicht abstehenden Ohren, den wuschligen Haaren, dem Fünf-Tage-Bart. Es würde einen auch nicht wundern, wenn er in einer Britpop-Band spielte oder selbst auf der Bühne stünde. Ein freundlicher Typ, aber keiner, der kumpelt. Beruflich weiß man einiges über ihn, privat erfährt man wenig: geboren 1980 im schwäbischen Göppingen, lebt in Zürich. Und dann? Das ist merkwürdig bei einem, der in seinen Arbeiten immer wieder die Identitätsfrage stellt.
Sie wimmeln von Doppelgängern, Spiegelmotiven – und der Frage: Wer bin ich? Das war schon in „Amerika“ so nach Franz Kafka am Hamburger Thalia Theater, Krafts Durchbruch, wo sich Karl Roßmann mit einer Videokamera und in Spiegelungen vervielfältigte und Philipp Hochmair in einem furiosen Solo alle anderen Charaktere übernahm, als wären sie Ausgeburten von Roßmanns Fantasie. In „Dorian Gray“ nach Oscar Wilde am Wiener Burgtheater spielte Markus Meyer sämtliche Rollen: Dorian als bald abblätternde Goldmaske, die anderen als perfekt zugespielte Videoprojektionen. In anderen Inszenierungen spaltete er hingegen die Hauptfigur auf, 2010 die Mifty in „Axolotl Roadkill“ in Hamburg, 2014 am DT Claire Zachanassian im „Besuch der alten Dame“. Und, nur wenige Monate später, der ost-west-deutsche Schriftsteller Ronald M. Schernikau in „Die Schönheit von Ost-Berlin“.
Seine spielerischen Antworten auf die Identitätsfrage sucht Kraft im Formalen: ein virtuoser Umgang mit Techniken und Textflächen, der nach Gießen weist, zu den Angewandten Theaterwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität, deren Absolvent Kraft ist. Im Studiengang lernten vor ihm Theatergrößen wie René Pollesch, Performance-Gruppen wie Rimini Protokoll und She She Pop gründeten sich hier. 2006 ging Kraft als Regieassistent ans Wiener Burgtheater, arbeitete mit den Regisseuren Stephan Kimmig, Martin Kušej und Alvis Hermanis. Hier realisierte er 2008 mit „schöner lügen. Hochstapler bekennen“ die erste eigene Inszenierung nach dem Studienabschluss. Bei der Premiere wurde Joachim Lux, damals Chefdramaturg der Burg, auf Kraft aufmerksam, der ihn wenig später ans Thalia Theater holte.
Schon damals hat Kraft sein Thema gefunden und gemeinsam mit Bühnenbildner Peter Baur seine Handschrift entwickelt, für die er gelegentlich in die Schublade des Ober-flächenkünstlers gesteckt wird. „Als Beschreibung stimmt das hundertprozentig“, sagt er. „Wenn das allerdings als Wertung gemeint ist, wünsche ich mir Differenzierung.“ Er ist empfänglich für die Oberfläche und glaubt an sie: „Sie ist kein Selbstzweck, sondern so stark poliert, damit man durch sie in die Tiefe schauen kann.“ Oft geht dieses Kalkül auf. Vor allem dann, wenn sie von starken, widerständigen Schauspielern getragen wird, die eine Reibung provozieren, wie Margit Bendokat, Ulrich Matthes, Philipp Hochmair. Kraft weiß das: „Die extreme Form, mit der ich arbeite, geht nur dann auf, wenn die Schauspieler sie mit Leben füllen.“ Denn seine Inszenierungen, diese szenischen Well-made plays auf dem schmalen Grat zwischen Kunst und Kunsthandwerk, sind dramaturgisch wie rhythmisch so perfekt, dass sie Gefahr laufen, einen in ihrer Vollkommenheit kaltzulassen – wie „Der talentierte Mr. Ripley“ 2013 an den DT-Kammerspielen zum Beispiel.
Wenn sie gelingen, treffen sie einen allerdings mit Wucht. Etwa wenn sich die großartige Margit Bendokat in „Die Schönheit von Ost-Berlin“ als Schernikaus Mutter gegen das Gewirr der Stimmen und Leiber stemmt. Wenn in der „Alten Dame“ zwischen der poppigen Stummfilmästhetik die totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts aufblitzen. Wenn in „Tod eines Handlungsreisenden“ die Kluft zwischen dem Ungesagten und den Schatten an der Wand unerträglich wird.
Oder wenn Stoff und Inszenierung zur vollkommenen Einheit verschmelzen. Wie in „Felix Krull“ am Münchner Volkstheater, mit dem er 2012 zum zweiten Mal das Münchner Radikal-jung-Festival gewann. Seine drei Hochstapler-Schauspieler flirten mit dem Publikum, schweben dabei immer ein paar Zentimeter über dem Boden und der Realität, übertrumpfen sich gegenseitig mit ihren Geschichten, in denen sie die Wahrheit dehnen. Ein irrer Spaß, der zugleich viel über eine Welt erzählt, die betrogen werden will.
„Ich bin überzeugt, dass im vermeintlich Oberflächlichen viel mehr Wahrheit über uns steckt, als wir glauben“, sagt Kraft. „Das Bild von unserem Ich, das wir durch die Welt tragen, was wir anziehen, wie wir auftreten etc., das ist nicht nur Fassade, das ist immer auch ein Teil der eigenen Wahrheit.“ Mit seinen aufgespaltenen Persönlichkeiten, Doppelungen und Projektionen, seinem Spiel mit den Ebenen, seinem strengen Rhythmus erzählt Kraft so immer auch von der Bühne und ihren Möglichkeiten. Eine Feier des Theaters als Abbild und Spiegel unserer Welt.