Rückblick: Mit Mut zum Außergewöhnlichen
Es ist nicht alles Gold, was glänzt. Das gilt auch für die wiedereröffnete Staatsoper, auch wenn im Inneren die Lüster funkeln. Erst die Eröffnung in Etappen, dann der beginnende Betrieb im unfertigen Haus. Draußen stehen noch neun Monate später Baugerüste, Tickets gibt’s im Container. Auf 2000 Positionen kommt die Mängelliste des neuen Intendanten Matthias Schulz. Ärgerlich ist aber vor allem das, was man nicht mehr ändern kann: Der akustische Gewinn fällt überschaubar aus, die Toiletten sind viel zu klein geplant. Beinfreiheit? Nur an den Rändern. Während man auf vielen Plätzen allenfalls die Hälfte des Bühnengeschehens sieht, stiegen die Preise für die Karten ebenso ordentlich wie die für die Pausenverpflegung.
Die Staatsoperneröffnung, das Ereignis der vergangenen Berliner Opernsaison 2017/18, ist also zugleich ihr Ärgernis. Klar, dass unter den nicht enden wollenden Bau- und Nachbesserungsarbeiten auch die Qualität der Produktionen leidet. In seiner letzten Spielzeit inszenierte Intendant Jürgen Flimm, der im Schillertheater so manchen Höhepunkt organisierte und Mut zum Experiment besaß, den Eröffnungshybrid „Verweile doch!“ aus Robert Schumanns „Faust-Szenen“ und Goethes Drama, der nach vier Aufführungen wieder in der Versenkung verschwand. Achim Freyer verzettelte sich in „Hänsel und Gretel“ zwischen Puppen-Anmut und Kapitalismuskritik, Harry Kupfer lieferte mit „Macbeth“ starbesetzte Regieroutine – Anna Netrebko! Placido Domingo! – vor fiesen Videoprojektionen. Mario Martone inszenierte zu den Festtagen einen harmlosen „Falstaff“. Und was Dmitri Tcherniakov geritten hat, „Tristan und Isolde“ derart kunstgewerblich zu bebildern? Man weiß es nicht.
Immerhin hatte die Produktion mit Anja Kampe und Andreas Schager ein Traumpaar anzubieten, und auch Daniel Barenboim, der bei den beiden Verdi-Premieren eher freundliche Stangenware bot, war hier mit der Staatskapelle in seinem Element. Auf der Habenseite ganz oben steht Eva-Maria Höckmayr, die einzige Regisseurin der Berliner Opernsaison (von den Produktionen der Werkstatt und der Tischlerei abgesehen): Mit Claudio Monteverdis „L’incoronazione di Poppea“ hat sie eine der überzeugendsten und berührendsten Arbeiten abgeliefert. Und Altmeister Hans Neuenfels verabschiedete sich mit „Salome“ vom Regisseursberuf – eine Arbeit, so genau und klug, dass man ihn kaum in die Rente entlassen mag.
Neuenfels ist in Berlin eine Regielegende, hatte zuvor schon an der Deutschen und an der Komischen Oper über viele Jahre großartige Inszenierungen geschaffen. Zwei Häuser, die in dieser Spielzeit mit ziemlich interessanten Spielplänen und eher selten gespielten Werken prunkten. An der Komischen Oper, die ihren 70. Geburtstag feierte, ist nach wie vor Intendant Barrie Kosky der größte Trumpf. Vier Inszenierungen lieferte er ab – jede war ein Treffer: „Pelléas und Melisande“ als subtile psychologische Studie, „Semele“ mit der hinreißenden Nicole Chevalier auf der Suche nach einem Leben hinter den Spiegeln, „Die Nase“ als irrwitziger Entertainment-Albtraum. Dazu der neue Klassiker im Repertoire, „Anatevka“, ein schauspielmusikalisches Fest um das Dreamteam Max Hopp und Dagmar Manzel und zugleich eine erschütternde Parabel auf alle Vertreibungen. Dass dagegen ausgerechnet der Operetten-Hit „Blaubart“, einst ein Evergreen in der Felsenstein-Inszenierung, bei Starregisseur Stefan Herheim so müde vor sich hinplätscherte, gehört ebenso zu den Enttäuschungen wie Calixto Bieitos Pädophilenring-Version von Franz Schrekers „Die Gezeichneten“.
Auch die Deutsche Oper hatte eine ziemlich gute Spielzeit – und präsentierte die Überraschung der Saison: „Das Wunder der Heliane“ von Erich Wolfgang Korngold. Mut besitzt so eine Bergung, denn der Aufwand ist enorm. Wird das Haus voll, trotz eines relativ unbekannten Werks mit immerhin rauschhafter Musik und eines Librettos, bei dem man aus dem Kichern nicht mehr herauskommt? Aber Christof Loys klare Regie, Sara Jakubiak in der Titelpartie und Dirigent Marc Albrecht, der all das Weben, Juchzen und Beben im Orchester hinreißend befeuert, machten ein gesamtkörperliches Ereignis daraus.
Diese Oper gehört ebenso ins Repertoire wie Aribert Reimanns Uraufführung „L’invisible“, ein symbolistisches Triptychon voller geisterhafter Klänge und warmen Gesangslinien. Regisseur Vasily Barkhatov verklammert die drei Teile überzeugend mit allem, was ihm der Bühnenapparat zur Verfügung stellt, Donald Runnicles leitet das Orchester präzise durch die komplexe Partitur. Ole Anders Tandberg lädt „Carmen“ in einer Traumbesetzung um Clémentine Margaine und Charles Castronovo ordentlich mit Leben und Symbolen auf. Rossinis „Il viaggio a Reims“ wird bei Jan Bosse zum zunehmend witzigen Spektakel – und wirkte während der EU-Asylkrisen-Tage sogar wie ein ziemlich bitterer Kommentar zur Lage.
Kein Spaß hingegen war „Die Fledermaus“, trotz der Tenorwitze von Teilzeit-Regisseur Rolando Villazón. Auch musikalisch fehlte dem Abend, der durch die Zeiten surft und in der roboterbesetzten Dystopie landet, der Drive. Ähnliches gilt für „Le prophète“ von Giacomo Meyerbeer, bei Olivier Py ein oberflächliches Spektakel zwischen Stichflammen und nackter Haut.
Wenn die zurückliegende Spielzeit eines gezeigt hat, dann das: Der Mut zum Außergewöhnlichen, Seltenen, Neuen lohnt. Die Staatsoper muss (und darf) sich gerade neu erfinden. Für die beiden anderen Häuser gilt: Es war eine ziemlich gute Saison.