Theaterkritik: Hypnose durch den DJ-Guru
Das Leben des Vernon Subutex – An den Münchner Kammerspielen verpasst Stefan Pucher Virginie Despentes’ Romantrilogie einen unterkühlten Soundtrack
Plötzlich ist sie da, die Ahnung davon, was diese Gemeinschaft sein könnte: Zärtlich singen die Schauspieler a cappella von der Résistance, dem Widerstand. Es klingt, als hätte Bach einen Popchoral geschrieben, immer mehr Stimmen kommen dazu, verweben sich, reiben sich aneinander. Endlich, nach all dem Hochdruck-Gerede und Handlungsgezappe, nach Argumenten, Schicksalen, Konflikten herrscht auf einmal – Harmonie.
Harmonie gibt es in Virginie Despentes Romantrilogie „Das Leben des Vernon Subutex“ eher selten. Vor allem auf den „Convergence“ genannten Zusammenkünften, die sich im zweiten und dritten Teil bilden: Da legt Subutex, einst Plattenhändler, dann Obdachloser, nun Guru, Musik auf; die anderen reden und tanzen. Hier kommen sie miteinander ins Gespräch, die Millionäre, die Clochards und die bourgeoisen Langweiler, die sonst ihre Klassen und Vorurteile trennen. Eine Utopie.
Warum ein Roman?
Despentes zeichnet in ihrem Roman ein Balzac’sches Gesellschaftspanorama des heutigen Frankreich. Nur lassen sich ihre schroffe Perspektivwechsel, ihre kühne Informationspolitik, die faszinierende Mosaiktechnik, die zahllosen Protagonisten kaum auf die Bühne übertragen. So erfährt man oft erst mitten in einem Kapitel, dass die Figur, aus deren Blick man gerade die Welt sieht, Schwarz oder trans oder Professor ist, was einem schockartig die Normiertheit des eigenen Denkens offenbart.
Wenn man einen 1200-Seiten-Roman auf die Bühne bringt, dessen Reiz weniger in der Handlung als im Wie des Erzählens liegt, muss man sich darüber im Klaren sein, warum man das macht. Wie kompensiert man, dass wichtige Episoden wegfallen, vielschichtige Charaktere verflachen, Bezüge verlorengehen? Was können Theater und Schauspieler, das der Roman nicht kann?