Theaterkritik: Jedermanns Beißreflex

Theaterkritik: Jedermanns Beißreflex

Othello – Staatstheater Darmstadt – Gustav Rueb knüpft mit Shakespeares Drama an aktuelle Rassismus- und Sexismusdebatten an und findet ein überraschendes Ende

Was ist die „Schwarze Schmach“? Brabantio, der gemeinsam mit Rodrigo Flugblätter verteilt „zum Schutz unserer Heimat, Bevölkerung, Frauen und Kinder“, macht nur schwiemelnde Andeutungen. Auf den Zetteln ist zu lesen: „die unerhörte Demütigung und Vergewaltigung einer hoch kultivierten weißen Rasse durch eine noch halb barbarische farbige“. Die Propaganda ist echt: Als nach dem Ersten Weltkrieg das Gebiet zwischen Mainz und Darmstadt von französischen Truppen besetzt war, nutzten Rechtsnationale den Umstand, dass viele Soldaten schwarz waren, für erfundene Vergewaltigungen und Morde.

Womit wir schon mitten drin sind in Gustav Ruebs „Othello“-Inszenierung am Staatstheater Darmstadt. Aus der wilden Übersetzung, die Feridun Zaimoğlu und Günter Senkel einst für Luk Percevals legendären Münchner Kammerspiel-„Othello“ von 2003 angefertigt haben, Versen Wolfgang Heinrich Graf Baudissins und eigenen Improvisationen haben Rueb und Dramaturgin Karoline Hoefer eine explosive Fassung erstellt. Jago und Rodrigo ätzen über den „Schoko“, jeder Gegner ist grundsätzlich schwul und Frauen sind zum vögeln da. „Muss das sein?“, fragt eine ältere Dame in der Pause. Ja. So reden, so denken Menschen. Es ist anstrengend, sich dem auszusetzen. Aber es kommt der Realität erschreckend nahe. Man muss sich nur mal in die S-Bahn setzen und zuhören.

Rueb und sein Team nutzen die ganze, nahezu leere Bühnentiefe – Daniel Roskamp hat ein Wasserbecken auf die Drehbühne gestellt und viele weiße Plastikstühle drumherum –, eine Geschichte von Heute zu erzählen und dabei an aktuelle Rassismus- und Sexismusdebatten anzuknüpfen. Othello ist eine Planfigur im Postengeschachere einer Frankfurter Vorstandsetage mit Blick über die City. Auf Zypern ist es nur am Pool erträglich – über allem brennt ein großer Sonnenball, der wahlweise als Leinwand dient für die Kamera, die im Schnürboden hängt und die Bühne aus der Vogelperspektive zeigt. Oder aber für Rodrigos Handy, das ihn als dummrechten Trottel entlarvt. Schlimmer sind nur die Wendehälse. Kaum hat Othello seinen bis dahin ergebenen Leutnant Cassio degradiert, wird auch er rassistisch ausfällig.

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