Opernkritik: Goldener Schuss
Keine gefühlvollen Abstürze in „La traviata“ bei Nicola Raab an der Komischen Oper – wo das lebendige Spiel einst erfunden wurde.
Das Internet ist an allem schuld. Früher gingen Prostituierte mit den Freiern noch ins Bett. Heute räkeln sie sich einsam vor ihren Webcams, zeigen hier ein Stück Arm, dort etwas Mieder. So jedenfalls wirkt die Botschaft in Nicola Raabs „La traviata“-Inszenierung an der Komischen Oper: Hinten posieren die Chordamen jugendfrei vor ihren Bildschirmen, vorne starren die Herren der Gesellschaft auf ihre Smartphones. Plötzlich ziehen sich ein Mann und eine Frau aus, stürzen sich auf der langen Tafel aufeinander. Ein kurzes Aufblitzen realer Leidenschaft? Oder nur eine Sexfantasie der Handygucker?
Von der Einsamkeit der Webcam-Kurtisane spricht Raab im Programmheft. Das wirkt angesichts von Giuseppe Verdis berühmtester Oper von 1853 dann doch etwas schräg. Schließlich ringt bei Verdi (frei nach Alexandre Dumas‘ „Kameliendame“) die Edelprostituierte Violetta Valéry im Schraubstock von gesellschaftlicher Doppelmoral und tödlicher Krankheit um Liebe und Selbstachtung. Und das zu einer Musik, die als Inbegriff vom „Kraftwerk der Gefühle“ gelten kann: Erregungskoloraturen, Gewaltchöre, gesungene Tränen.
Vom Kraftwerk bleibt bei Raab allerdings eher der diffuse Nebel einer Dampfwäscherei. In Madeleine Boyds glanzloser Industriehalle der Entstehungszeit, die zwischen Loftcharme und Werkstattkälte schwankt, steht die historisierte Halbwelts-Gesellschaft in hohen Zylindern und weiten Krinolinen herum. Als im Landhausakt auch noch Laub vom Himmel fällt, fühlt man sich vollends wie in einer „Traviata“ der 70er Jahre.
Wenn da nicht die Technik wäre. Dass Violetta allerdings wegen der Webcam einsam ist, bleibt ebenso Programmheft-Behauptung wie das Gefühlskraftwerk. Statt es auf der Bühne zum Leben zu erwecken, zitiert es Raab durch Projektionen schwarzweißer „Kameliendame“-Verfilmungen herbei. Verdi hat ja alles in äußerster, oft realistischer Dichte komponiert: Auftritte, Gefühlsumschwünge, Abstürze. Nichts davon nutzt Raab. Sie ignoriert die musikalischen Angebote, die Ainārs Rubiķis aus dem Graben sendet, ohne dem eine schlüssige Deutung entgegenzusetzen. Oder auch eine Figurenführung, die ihren Namen verdient hätte. Und das an dem Haus, an dem die psychologische Motivation der Handelnden und das lebendige Spiel einst erfunden wurden!
Immer sind es äußere Reize, die die Figuren antreiben: Während der Ouvertüre entdeckt Violetta dank Röntgenbildern und Arztbrief, dass sie sterben muss – und deshalb wenig später doch die Liebe zulässt, gegen die sie sich eigentlich wehrt. Am Ende setzt sie sich den goldenen Schuss, vermutlich um zu begründen, warum sie noch einmal derart aufdreht.
Nur aus dem Inneren kommt hier nichts. Natalya Pavlova bewegt sich so unberührt über die Bühne, als wäre ihre Violetta nur ein Luxus-Girl, das das Pech hat, an einer Lungenkrankheit zu sterben. Stimmlich reizt sie nie die Möglichkeiten dieser Rolle aus. Alles ist da in ihrem angenehm strömenden Sopran, jede Note wird brav ausbuchstabiert. Aber eine Interpretation? Wo bleiben Dringlichkeit und Leidenschaft angesichts von Liebe, Hass, Tod?
Das da emotional nichts in Gang kommt, liegt wesentlich auch an Alfredo, der bei Ivan Magrì so schneidig und seelenlos singt wie ein preußischer Offizier. Wie man sich in diesen Rumsteher mit blecherner Pathos-Stimme und steifem Operettenschmelz verlieben können soll, gehört zu den vielen Rätseln des Abends.
So etwas wie Konflikt und Spannung kommt erst mit Alfredos Vater auf. Den hat Raab zwar zum eindimensionalen Bösewicht erklärt – wenn er auftritt, schmal und schwarz, flackern die Lichter, als schreite Mephisto persönlich herbei. Aber Günter Papendells gewaltige Stimmfarbpalette kennt viele Nuancen. Da besäuft sich einer nicht am Selbstmitleid. Sondern da treibt ein Bürger eine Außenseiterin bewusst in den Tod. Als Deutung dieser Figur ist das nicht besonders subtil. Aber es ist endlich mal was los auf der Bühne. Von diesem Kraftfeld lässt sich dann auch Pavlova für Momente entfachen.
Zumal Rubiķis mit dem Orchester der Komischen Oper und dem Chor gelegentlich für ordentlich Druck sorgt, ohne die Sänger einzuengen. Mitunter klingt das gröber als nötig, mal geraten die Festszenen auch etwas betulich. Dennoch ist das, was aus dem Graben kommt, neben Papendell oft das einzige, was daran erinnert, warum „La traviata“ ein derart beliebtes Werk ist. Nahezu jedes Opernhaus hat eine Inszenierung davon im Repertoire. Auch in Berlin. Allerdings hätte die Stadt neben Götz Friedrichs behutsamer Deutung an der Deutschen Oper, die schon bei ihrer Premiere vor 20 Jahren etwas aus der Zeit gefallen wirkte, und Dieter Dorns ebenfalls eher konservativen Inszenierung an der Staatsoper jetzt durchaus einen etwas beherzteren Zugriff wagen können. So wie die letzte „Traviata“ an der Komischen Oper: Damals skizzierte Hans Neuenfels eine kalte, herzlose Welt, in der Violetta loderte.
Gut möglich, dass neue Sängerinnen und Sänger Raabs Inszenierung mehr Emotionen einimpfen und Pathosgesten beglaubigen. Dann könnte eine ein bisschen altmodische, aber im Ganzen funktionierende „Traviata“ mit verloren wirkenden technischen Gadgets herauskommen. Noch aber wirkt der Abend wie ein Korsett, das darauf wartet, mit Leben gefüllt zu werden.
Komische Oper Berlin, Behrenstraße 55-57, Mitte, Karten: 47997400. Wieder 7., 13., 17., 20., 23, 25., 28. Dezember, 10., 17. Januar, 1., 12., 22. Februar