Newsletter: Schreit doch!
Newsletter der nachtkritik.de-Redaktion vom 23. April 2020: Corona: Politik und Theater + Grütters-Interview + Klimakrise
Liebe Leser*innen,
die Zeit der allgemeinen Solidarität scheint schon wieder vorbei zu sein. Während immer klarer wird, dass die Theatersaison inklusive Sommerspektakel gelaufen ist – offiziell ist das schon für Österreich, Berlin, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern sowie die Häuser in Bamberg, Basel und Dortmund (die deprimierende Liste wird laufend ergänzt) –, steigen die Chancen, dass ab dem 9. Mai wieder gekickt werden darf. Geisterspiele, klar. Aber was ist mit Live-Streams aus leeren Theatern? Was hat der Fußball, was die Theater nicht haben?
20.000 Corona-Tests zum Beispiel. Und eine wirksame Lobbyarbeit, dazu viele Millionen Euro Sponsorengelder im Rücken. Dass Kultur Nahrungsmittel sei, gehört – wir haben es längst geahnt – zum Floskelpool von Sonntagsreden. Wenn jetzt Ulrich Khuon als Präsident des Deutschen Bühnenvereins erkennt, dass man offenbar „schreien müsse“, um vorzukommen, dann denke ich: Ja, schreit doch! Bis zu den Abendnachrichten (wo die Forderungen der Fußballbundesliga regelmäßig verhandelt wurden) ist nämlich bis jetzt noch nichts vorgedrungen.
Das sieht in Österreich ein bisschen anders aus. Aber das, was dann auf der Kultur-Pressekonferenz mit Vizekanzler Werner Kogler und der Staatssekretärin für Kunst und Kultur, Ulrike Lunacek, verkündet wurde, war wenig konkret, wie Teresa Präauer berichtet. Dafür gab’s Floskeln am nationalen Lagerfeuer gratis.
Auch in Deutschland vermisst man konkrete Überlegungen, wie in den Theatern die Öffnungsszenarien aussehen könnten. „Die Politik wird diese Probleme nicht alleine lösen können“, sagt gewohnt diplomatisch die deutsche Kulturstaatsministerin Monika Grütters im Interview mit nachtkritik.de. „Ich werbe daher dafür, dass wir gemeinsam über Wiedereröffnungs-Strategien nachdenken.“ Was „Großveranstaltungen“ seien, müssten „die Länder nun in ihren entsprechenden Landesverordnungen verbindlich festlegen“. Denn davon hängt
ab, wann und wie Theater wieder öffnen können. Und wie.
Der Schrei sollte umso gellender ausfallen, je deutlicher wird, dass auch im Herbst nicht einfach eine normale Saison beginnt – die Abstandsregeln gelten vermutlich, bis ein Impfstoff gefunden ist. Sogar die Ruhrtriennale, die ja erst Mitte August begonnen hätte, wurde abgesagt. Erste größere Häuser sollen schon mit einem Spielbeginn im Dezember planen. Und die anderen? Zwei-Personen-Stücke ohne Anfassen, dafür mit 200 verstreut sitzenden Menschlein im Großen Haus? Ist das noch Theater oder schon künstlerische Selbstabschaffung? Dass auch gestreamte Soli packende Theatermomente ergeben können, beweisen derweil Christopher Rüping mit Dekalog und David Gieselmann mit Hanna Silber, wie unsere Nachtkritiken berichten. Sind Monologe also die Theaterform der näheren Zukunft?
Welche Zukunft überhaupt?, fragen seit einigen Wochen Christian Tschirner und Lynn Takeo Musiol in ihrer Reihe „Inside Endzeit“. Ein Titel, der zwar nach Corona klingt, aber die Klimakrise meint, die auf den Bühnen immer noch erstaunlich selten verhandelt wird. In dieser Woche interviewen sie die Philosophin Eva von Redecker: Lassen sich unsere Wirtschafts- und Lebensverhältnisse revolutionär umgestalten? Während des Lockdowns haben wir ja eigentlich genug Zeit, uns darüber klar zu werden, wie es nach der Krise weitergehen soll: Wie bisher? Oder alles anders?
Theater, so wie wir es bisher kannten, wird es wohl auch weiterhin nur im Stream geben. Wie bei uns im #nachtkritikstream, wo wir uns täglich darum bemühen, während des Shutdowns das deutschsprachige Theater in seiner Vielfalt sichtbar zu halten. Vielleicht hilft das ja bei der Lobbyarbeit.
Bleiben Sie gesund!
Georg Kasch