Porträt: Im Autoritätspanzer
Mit Corinna Harfouch in der Hauptrolle: In der begehbaren Videoinstallation „geRecht“ steht das deutsche Asylrecht auf der Bühne.
Weit bauscht sich ihre Robe, als die Richterin durch die langen Gänge eilt. Hier eine Treppe hoch, dort eine Treppe runter, vorbei an riesigen neobarocken Fenstern und unzähligen Türen. Noch ein Gang, noch eine Abbiegung. Weiß die Frau überhaupt, wo’s lang geht? Oder sind die Richtungsentscheidungen schon Automatismen, die es schwer machen, eine Sache noch einmal anders zu betrachten? Das Gewirr der Gänge und Treppen jedenfalls könnte durchaus ein Sinnbild sein für das deutsche Justizsystem. Ein undurchdringliches, verschachteltes Gebilde, aus dem man ohne Rechtshilfe keinen Ausweg findet.
„geRecht“ heißt der Abend der Gruppe suite42, der im Juni im Theater im Aufbauhaus TAK in Berlin Premiere hatte und nun im Repertoire läuft. Beispielhaft erzählt er von einem Asylverfahren: Eine leitende Richterin wird kurz vor dem Ruhestand mit einem typischen Fall konfrontiert. War der Asylsuchende Farid aus Afghanistan schon einmal in Deutschland? Er sagt: nein. Aber es gibt Ungereimtheiten. Sind das Missverständnisse? Falsche Übersetzungen? Oder ist es ein zweifelhafter Bezug zur Wahrheit?
Zugleich weiß die Richterin, wie zufällig manche Entscheidungen sind, wie sehr ein Ergebnis – Anerkennung eines Asylantrags oder Abschiebung – von Details abhängig ist: etwa einer unprofessionellen Übersetzerin, die kurzfristig eingesprungen ist. Auch der Anwalt, ein Bekannter der Richterin, versucht das geltend zu machen: im Zweifel für den Angeklagten. Während sie darauf beharrt, sich nicht beeinflussen zu lassen, bröckelt ihre Selbstgewissheit, weil sie befürchten muss, dass ihr Sohn in Afghanistan verschollen ist. Und dann wird sie auch noch an ihre Vergangenheit in der DDR erinnert, wo sie einst selbst vor Gericht stand, bevor ihr die Flucht in den Westen gelang.
Das Besondere an diesem Stück: Mehrere Autor_innen haben es gemeinsam nach einer Idee von Anne Rabe und Lydia Ziemke als vierteilige Theaterserie geschrieben. Alle haben sie transnationale Biografien. Die Konzeption entwarfen sie gemeinsam, arbeiteten dann aber je nach ihren Stärken am Text: Peca Ştefan trieb die Dialoge voran, Mehdi Moradpour legte seinen Fokus auf die Gerichtsszenen und die Übersetzungsthemen, Matin Soofipour Omam schrieb die inneren Monologe der Richterin. Außerdem wirkten die Dramaturgin Maria Milisavljević und der kreative Berater Ghiath Al Mhitawi mit. „Ihr Ziel war es, zu einem ehrlichen Umgang mit dem Thema Asyl anzuregen: Warum bekommen zwei verschiedene Menschen in derselben Situation zwei unterschiedliche Bescheide?“, fragt Regisseurin Lydia Ziemke. Mit ihrem Stück wollten die Autor_innen mit dem Mythos vom gerechten Asyl aufräumen. „In der Welt heißt es, dass in Deutschland die Menschenrechte gelten, und in der Bevölkerung herrscht die Meinung, dass bei uns Asyl bekommt, wer es verdient“, sagt Ziemke. „Aber wenn man mit Jurist_innen spricht, sind sie sich einig, dass gerecht etwas anderes ist als das, wozu sie der Gesetzgeber anhält.“
Gewissen oder Wissen?
Das schlägt sich auch in „geRecht“ nieder, dem ersten der vier Teile. In einem Gespräch versucht der Rechtsanwalt zum Beispiel, die Richterin auf die Schwierigkeiten des Falls – unsicheres Herkunftsland, Doppelmoral, ein offenbar traumatisierter Klient – aufmerksam zu machen. Sie kontert trocken: „Ich entscheide nach dem Gesetz und meinem besten Gewissen.“ Aber was, wenn zu Gesetz und Gewissen das Wissen um Details fehlt? Und was, wenn persönliche Betroffenheit den Blick auf den Fall noch einmal weitet?
„Für mich ist der Kern der Geschichte, dass Gerichtsprozesse das Resultat im Blick haben und nicht Gerechtigkeit“, sagt Co-Autor Mehdi Moradpour. Heute ist er Dramaturg an den Münchner Kammerspielen, davor hat er lange für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und Gerichte als Dolmetscher gearbeitet. Damals erlebte er, wie zufällig Gerichtsentscheidungen in Asylfragen sein können, wie sehr äußere Einflüsse wie Quoten eine Rolle spielen. Offiziell gibt es sie nicht. Dennoch kommunizieren Regierungsorgane Vorgaben, die die Aufnahme von Menschen deckeln. „Deshalb fände ich es spannend, wenn sich die Menschen im Publikum dazu anregen lassen würden, sich stärker mit dem Rechtssystem zu beschäftigen und damit, dass Recht und Gerechtigkeit nicht dasselbe sind“, sagt Moradpour.
Geplant war die Produktion für 2020, live mit Schauspieler_innen auf der Bühne. Dann kam Corona. „Im März 2020 haben wir uns gefragt, was wir mit dem Text machen können, ohne ins Digitale gehen zu müssen“, sagt Ziemke. Klar war, dass es – distanzbedingt – eine andere Art der künstlerischen Auseinandersetzung würde geben müssen, zugleich war aber wichtig, den Figuren und ihren Motivationen weiterhin nahekommen zu können.
Die Lösung ist eine begehbare Videoinstallation, umgesetzt von Daniel Hengst. Im Raum hängen auf allen Seiten in verschiedenen Abständen sechs transparente Leinwände, auf die die Filmbilder projiziert werden. So kann etwa die Raumwirkung des Gerichtslabyrinths entstehen, wenn man die Richterin hinten rechts klein entlangeilen sieht, dann groß direkt vor einem, bis sie links über mehrere Leinwände verschwindet. So lassen sich aber auch die Charaktere aufspalten, teils surreale Bilder schaffen.
Ein Vorteil der Corona-kompatiblen Filmfassung ist, dass – anders als in der ursprünglichen Planung – nun Corinna Harfouch die Rolle der Richterin spielt. Harfouch wird für ihre Arbeit am Theater wie beim Film gefeiert. Dass sie im kleinen TAK zu sehen ist, ist ein Coup – es hat nicht nur mit dem Medium Film zu tun, denn Drehtage lassen sich besser planen als immer neue Spieltermine, sondern ist auch dem Inhalt geschuldet: „Sie war von Text und Form begeistert!“, sagt Ziemke.
Hinter Autoritätspanzer verschanzt
Es ist faszinierend, Harfouch dabei zuzusehen, wie sie dauergenervt einen Autoritätspanzer um sich errichtet, etwa wenn sie den Kollegen (Roland Bonjour) zurechtweist, die Übersetzerin (Anke Retzlaff) herunterputzt oder Farid (Omar El-Saeidi) ins Kreuzverhör nimmt. Ihr Schutzschild bröckelt, als ihr Sohn und ihre DDR-Vergangenheit ins Spiel kommen. Dass es sich um Theater handelt, sieht man an den Kulissen, den Rollenwechseln, dem Schnitt. Aber die Großaufnahmen und der Surround-Klang entwickeln eine Kinointensität, rücken das Geschehen nahe an einen heran.
Ob Farid am Ende bleiben darf oder Deutschland verlassen muss, bleibt offen. Beide Varianten werden angeboten. Auch den Grund seiner Flucht erfährt man nicht – Farid liefert gleich ein halbes Dutzend Motive. Ist er wirklich schwul, wie sein Anwalt behauptet? Oder ist er vor Terror und Armut geflohen? Das eine zählt als Asylgrund, das andere nicht. Ist das gerecht? Fragen, mit denen das Stück sein Publikum auf produktive Art konfrontiert, ohne sie zu beantworten. Denn es geht nicht um den Einzelfall. Es geht um ein System, das ungerechter ist, als es zu sein vorgibt. Die gute Nachricht: Systeme lassen sich ändern.