Theaterkritik: Ein Glücksfall für die Volksbühne
Bildgewaltig, prunkvoll und entsetzlich: Florentina Holzinger taucht zur Saisoneröffnung mit „Ophelia’s Got Talent“ in die Welt der Wasserwesen ein.
Gegen Ende orgeln noch einmal die ganz großen Bilder im weiten Rund der Bühne: Ein riesiger Helikopter taumelt im Sturm. Flammen lecken am Beckenrand, in dem sich das Wasser blutrot färbt, während von oben Regen prasselt. Es wirkt, als begehre die Natur auf, und so ist auch nicht ganz klar, was da gellt: Hilferufe? Todesschreie? Dann fallen auch noch massenhaft Plastikflaschen aus dem Bühnenhimmel ins Wasser.
Es ist ein apokalyptisches Finale, das Florentina Holzinger in „Ophelia’s Got Talent“ entfacht. Und doch ist es noch nicht das Ende. Da kommen nämlich die sechs jungen Mädchen noch einmal auf die Bühne, mit Haiflossen auf dem Rücken, und tauchen ein in die Sauerei. Mag ja sein, dass es sich hier um die „letzte Generation“ handelt. Aber weil sie so zäh, gewitzt und solidarisch sind, besteht für sie vielleicht doch eine Chance, dass es nach ihnen weitergeht – auch wenn wir es bislang vermasselt haben.
Dass „Ophelia’s Got Talent“ René Polleschs zweite Volksbühnen-Spielzeit eröffnet, ist für ihn ein Glücksfall. Zuletzt stand der Intendant in der Kritik, kaum überzeugendes Programm, maue Auslastung, zu wenige Spieltage. Zwar gehörte Holzingers Vorgänger-Abend „A Divine Comedy“ schon zu den Hits im Programm, wirkte aber nach seiner Premiere bei der Ruhrtriennale in Berlin nicht mehr ganz frisch und auch nicht so stark wie ihre anderen Arbeiten.
Jetzt setzt Holzinger, die längst zu den prägendsten Choreografinnen und Theatermacherinnen der Gegenwart zählt, neu an. In zwei Stunden und 40 Minuten strapaziert sie sowohl die Körper der 13 Darstellerinnen als auch die Bühnentechnik. Radikal ist dieser Abend, der die mythischen Wasserwesen der Kulturgeschichte als naturnahe Kreaturen weiblicher Selbstermächtigung feiert. Das betrifft sogar Ophelia, sonst eher schöne, passive Wasserleiche. Gleich drei Wasserbecken hat Nikola Knežević auf die Bühne gestellt, ein großes in der Mitte mit Schwimmbahnen, eins vorne rechts für Entfesselungstricks und eines hinten, das wirkt wie von Sasha Waltz‘ Staatsopern-Hit „Dido und Aeneas“ inspiriert. Dazu senken sich immer neue Seile, Stäbe und Schlaufen herab, um Performerinnen in die Luft zu entführen.
„Ophelia’s Got Talent“ beginnt als Talentshow à la „Deutschland sucht den Superstar“. Ein weiblicher Captain Hook moderiert, drei Jurorinnen heben und senken die Daumen, Sophie Duncan wirbelt durch die Luft, Fibi Eyewalker schluckt Schwerte, Zora Schemm singt „Ich war noch niemals in New York“. Einzige Besonderheit: Hier sind alle nackt! Eine herrliche lässige Freiheitsgeste wider Schamgefühl und Körpernormen.
Dann aber geht ein Unterwasser-Entfesselungstrick schief – und die Show bricht ab. Von nun an folgt der Abend keiner Erzählung mehr, allenfalls der Logik der Kontraste einer selbstbewussten Freak-Show: Fibi Eyewalker schluckt eine Kamera und gibt so Einblick in ihr Inneres (wo sich dank Videotricks Fische tummeln). Saioa Alvarez Ruiz, die sich später in ein groteskes Meerwesen verwandelt, lässt sich live einen Anker auf die Pobacke tätowieren. Holzinger selbst jagt sich einen riesigen Angelhaken durch die Wange.
Doch sind derlei Krassheiten nie Selbstzweck, sondern fügen sich ein in die Wasserwesen-Motivwelt. Zwischen Heines „Loreley“ und Schillers „Der Taucher“ dämmert einem nämlich bald, dass all die Sirenen, Undinen und Melusinen reine Männerphantasien sind, in denen sich Verführungskraft und Gefahr mischen, Lust und Kastrationsangst. Wasser wird hier zum Symbol einer kaum zu fassenden Natur, die man unbedingt unter Kontrolle bringen muss.
Nur wird das zum Glück nicht erklärt. Es ergibt sich aus der Motiv- und Bilderflut. So wie auch die Umdeutung von Figuren (Matrosen, Monteure) und Tänze, die eher mit Männern verbunden werden: Einmal entwickelt sich aus einem Ratschen und Klopfen eine herrliche Steptanz-Nummer, die zum Irish Dance, dann zum russischen Kasatschok wird.
In solchen Momenten ist „Ophelia’s Got Talent“ eine Art Friedrichstadtpalast für Mutige, angesiedelt zwischen Revue und zeitgenössischem Zirkus. Aber immer dann, wenn man es sich gerade gemütlich macht in Spektakel und Rhythmus, ändert Holzinger Tempo und Erzählrichtung. Das Schöne und das Schreckliche liegen bei ihr nur eine Schrittfolge auseinander.
Und das Entsetzliche gebiert herrliche Bilder. Einmal erzählt Holzinger auf der Bühne, dass sie mit zehn Jahren aufhörte zu essen und, als die Erwachsenen das endlich bemerkten, im Krankenhaus zwangsernährt werden musste. Dazu schieben sich zwei Performerinnen Plastikschläuche in die Nase, die Kamera vergrößert das auf den Leinwänden links und rechts. Mit diesen Schläuchen steigen sie ins Wasser, lassen Fontänen aufsteigen. Zusammen mit den anderen Wasserfrauen und noch mehr Fontänen setzt sich ein Bild zusammen, das wie einer der zahllosen Nereiden-Brunnen wirkt, symmetrisch, prunkvoll, verspielt.
Manches hier erinnert natürlich auch an vorhergehende Abende, etwa der Helikopter, der im Sturm von den Frauen geritten wird wie die fliegenden Hexensabbat-Motorräder in „Tanz“. Aber vieles ist auch völlig neu, begleitet von der Motivspur zwischen „What shall we do with a drunken sailor“ und Schuberts „Forelle“, dem „Weißen Hai“-Motiv und dem „Wellerman“-Shanty, die Paige A. Flash und Urška Preis an Harfe und Cello legen. Der Abend ist um bestimmt 20 Minuten zu lang und franst gegen Ende etwas aus. Dennoch entfesselt „Ophelia’s Got Talent“ einen magischen Sog, eine Bildgewalt, eine Verführungskraft, wie man sie derzeit kaum anderswo erleben kann.