Theaterkritik: Präzise und klug
Regisseurin Caroline Guiela Nguyen widmet sich in „Kindheitsarchive“ an der Schaubühne den Problemen von Auslandsadoptionen – ergreifend, ohne Melodramatik.
Zum Beispiel die Hautfarbe. Am Telefon ist ein Mann, der offenbar ein schwarzes Kind adoptieren will. İlknur Bahadırs Mira, Mitarbeiterin in einer fiktiven Adoptionsvermittlungsstelle, fragt geduldig, was dieser Umstand für ihn und seine Familie bedeutet. Gibt es weitere schwarze Familienmitglieder? Freunde? Oder generell im Dorf in Brandenburg, in dem die Familie wohnt? Der Mann reagiert gereizt, will nicht verstehen, was das Problem sein könnte.
Genau das ist das Problem. Wenn es darum geht, Kinder aus dem Ausland zu adoptieren, gibt es unzählige solcher Momente, in denen guter Wille und mangelndes Verständnis für die Komplexität des Themas aufeinanderprallen. Das zeigt Autorin und Regisseurin Caroline Guiela Nguyen in ihrem Stück „Kindheitsarchive“ an der Schaubühne. Oft ist es die westliche Perspektive eines Lebens im Wohlstand, die den Blick darauf verstellt, dass ein Kind auch in einem relativ armen Herkunftsland glücklich sein kann.
Nguyen hat viel recherchiert in einer Adoptionsstelle, aber auch unter erwachsenen Menschen, die als Kinder nach Mitteleuropa gekommen sind – und daraus ein erstaunlich spannendes Stück gemacht. Im Spannungsfeld zwischen Bürokratie, Therapie und Sozialpädagogik wuseln Veronika Bachfischer, İlknur Bahadır und Vimbai Strähler durch die realistischen Büroräume des „Internationalen Büros für Kindheit“. Hier taucht Ruth Rosenfelds Rebecca auf, die einen Jungen aus Vietnam adoptieren möchte und zwischen Euphorie und Verzweiflung pendelt. Oder Irina Usovas Nina, die nach ihren russischen Wurzeln sucht, was ihre dominante Adoptivmutter – Stephanie Eidt mit der geballten Arroganz einer Geschäftsfrau – verhindern will. Andere werden per Videochat und Telefon zugeschaltet, auf Spanisch, Französisch, Englisch.
Faszinierend, wie aus bürokratischen Erläuterungen bald ein echtes Emotionsschlachtfeld wird, geerdet durch die beruhigend sachlichen Mitarbeiterinnen (bis Bachfischers Victoria gegen Ende die Nerven verliert). Kaum merklich dreht Nguyen in Text und Inszenierung die Daumenschrauben an, bis maßlose Freude in Enttäuschung kippt oder wohlmeinende Menschen in interkulturelle Fettnäpfchen treten. Einmal begegnet Nina im Videochat voll fiebriger Aufgeregtheit ihrem Bruder in Moskau. Als sie ihm anbietet, ihn mit Frau und Kind nach Berlin einfliegen zu lassen, ist er in seinem Stolz verletzt. Als dann noch unangekündigt ihre leibliche Mutter vor der Kamera erscheint, alt und etwas sonderlich, und weinend darum bittet, ihre Tochter nur einmal in den Armen halten zu dürfen, schlägt der Glücksrausch vollends in Ernüchterung um. Von der bitteren Pointe, dass das alles 2020 spielt und heute so nicht mehr möglich wäre, zu schweigen.
Trotz solcher Zuspitzungen gleitet der Abend nie ins Melodram ab. Nguyen beobachtet genau, arbeitet szenisch in einem detailreichen Realismus, wie man ihn in Deutschland nicht oft sieht. „Kindheitsarchive“ wird so zu einem Abend, an dem man viel erfährt, ohne direkt belehrt zu werden. Und danach mit etwas anderen Augen auf Deutschland und die Welt blickt.