Buchkritik: Das Durchdringen von Theater und Zeit

Buchkritik: Das Durchdringen von Theater und Zeit

Es ist das Finale eines Mammutprojekts, das seinesgleichen sucht: Posthum ist mit „Theater in Deutschland 1967-1995“ Günther Rühles dritter und letzter Band deutscher Theatergeschichte erschienen. Sicher: Das mit 800 Seiten vergleichsweise schmale Werk trägt das bürgerliche Theater zu Grabe. Es enthält aber auch Déjà-vus und Anekdoten, die einen geradezu romantisch glotzen lassen.

Kann man das machen? Kann man in einem Jahr, 1887, einen Pflock einschlagen und gut hundert Jahre später, 1995, einen weiteren und sagen: Das ist das Dezennium des bürgerlichen Theaters? Kann man dieses Jahrhundert auspinseln mit ungeheurer Belesenheit, den Glauben an die Theaterkritik und eigener Seherfahrung? Kann man all die Namen, Entwicklungen, Inszenierungen in einen Erzählstrom zwingen, so elegant wie vorwärtsdrängend formuliert, einfühlsam und zugleich hochinformativ?

Günther Rühle hat es versucht in seinem dreibändigen „Theater in Deutschland“. Staunend sind wir ihm dabei gefolgt durchs Kaiserreich, die Republik und die Nazidiktatur (1887-1945), durch den Wiederaufbau und die Adenauerjahre (1945-1966). Jetzt, ein knappes Jahr nach Rühles Tod, liegt der dritte und letzte Band vor. Er umreißt die Jahre 1967 bis 1995 – von Peter Handkes und Claus Peymanns „Publikumsbeschimpfung“ am 8. Juni 1966 bis zum Tod Heiner Müllers.

Damit hat ein Mammutprojekt sein Ende gefunden. Auf insgesamt über 3600 Seiten schreitet Rühle gut einhundert Jahre deutscher, manchmal auch deutschsprachiger Theatergeschichte ab (nämlich mit Ausfallschritten nach Wien, Basel, Zürich), vom Erscheinen Henrik Ibsens und der Geburt des Regisseurstheaters bis zu Peter Steins „Faust“ (den Rühle zusammen mit Müllers Tod als „Epitaph des bürgerlichen Theaters“ wertet). Dass Theater dabei nie im luftleeren Raum existierte, sondern immer schon eine in gesamtgesellschaftliche, politische und kulturelle Entwicklungen eingebettete Kunst war, hat Rühle so panoramatisch beschrieben wie niemand sonst. Bei ihm begreift man, warum einzelne Inszenierungen so herausragten, was bestimmte Namen so wichtig macht, wie gesellschaftliche und künstlerische Ereignisse aufeinander reagierten und wie eng Theater in der Provinz und den Metropolen in Deutschland miteinander verzahnt sind.

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