Nachruf: Auf Augenhöhe

Nachruf: Auf Augenhöhe

Zum Tod des Kritikers und Mitgründers von nachtkritik.de Nikolaus Merck

Was macht die Liebe in der Theaterkritik? Den großen Unterschied, so hat es Nikolaus Merck in seinem letzten Text für nachtkritik.de beschrieben, in dem er sich auf einen Essay von Andreas Wilink bezog. Sie sei die Abgrenzung zur Beckmesserei, zudem «der Antrieb für die Einsamkeitsakrobatik des Schreibens». Am Ende also gar «das Geheimnis der Kritik».

Niko war ein Liebender. Nicht ohne Skepsis, dem Pathos misstrauend, kritisch. Und doch liebte er die Menschen wie das Theater. Beiden war er ein Freund. Dem Theater und der Theaterkritik, weil er hinreißend offene, angreifbare Texte schrieb, in denen er leidenschaftlich argumentierte und die Verhältnisse schonungslos sezierte. Schauspielende konnte er zärtlich besingen und herrlich schimpfen über jene, die er für «völlig überschätzt » hielt.

Der Kritik (und damit dem Theater) diente er aber vor allem, indem er 2007 nachtkritik.de mitbegründete und sich 15 Jahre lang unermüdlich dafür einsetzte, dass diese zunächst zarte Pflanze gedieh – als Gesellschafter, Redakteur, für einige Jahre auch als Chefredakteur, zuletzt als Geschäftsführer. Damit Kritik, die in den Tageszeitungen schrumpfte, einen weiteren Ort bekommt. Und damit sie zwar das erste, über Nacht geschriebene, aber nicht das letzte Wort hat, sondern via Kommentarfunktion unter den Texten in einen Dialog tritt mit den Leser:innen (und bisweilen zurückschimpfenden Künstler:innen).

Für Niko war dieser Ort ein Kosmos aus Menschen. Viele Autor:innen schätzten ihn als Anker der Redaktion, als jemanden, der sich wirklich auseinandersetzte mit ihnen, mitunter schonungslos Rückmeldung gab, aber eben auch zuhörte, Argumente wahrnahm und durchdachte, nachfragte. Jenen, denen es schlecht ging, die krank waren oder trauerten, schickte er Baumkuchenspitzen und Blumensträuße. Gerade uns Jüngeren war er ein Mentor, hat uns Aufgaben zugetraut, an die wir uns selbst kaum gewagt hätten, hat Rat gegeben, beruflich und privat.

Dabei war Niko jemand, der wusste, dass man sich trotz bester Absichten und fundiertester Argumentation auch irren kann. Entsprechend verschmitzt war er oft, ironisch. Hierarchiefrei übte er seine Leitungsfunktionen aus, auf Augenhöhe, sah sich als «Stubenältesten ». Von Autoritäten hat er sich nie beeindrucken lassen.

Das war offenbar schon an der Universität so, wie Freunde berichten. 1957 in Darmstadt als Sohn einer Industriellenfamilie geboren, studierte er zunächst Fotografie, bevor er sich in Berlin der Theaterwissenschaft und Geschichte widmete. 1991 ging er für vier Jahre als Dramaturg ans Mecklenburgische Staatstheater Schwerin. Man könnte das als typische damalige Karriere abtun: Da geht ein langstudierter Wessi in den Osten und zeigt denen, wie’s geht. Es war anders: In diesem Theater, das ästhetisch noch stark den Geist der 1980er Jahre atmete, das mit Sparzwängen und seiner neuen Rolle in einer Gesellschaft im Umbruch kämpfte, sog Niko sich voll mit Fragen und einem Sinn für die Widersprüche. Nicht als Besserwessi, sondern als neugierig Lernender.

Diese Sensibilisierung hat Niko mitgenommen auf die andere Seite, den Kulturjournalismus. Mit knapp 40 Jahren begann er, Kritiken, Essays, Reportagen zu schreiben, für «Theater der Zeit», die «Frankfurter Rundschau», die «Zeit», die «taz». Auch hier galt seine Leidenschaft dem Osten und dem oft verzweifelten Kampf der Künstler:innen dort gegen das Schrumpfen von Mitteln und Bedeutung. 2001 veröffentlichte er ein Buch mit dem DDR-Theaterkritiker Martin Linzer: «‹Ich war immer ein Opportunist›. 12 Gespräche über Theater und das Leben in der DDR, über geliebte und ungeliebte Zeitgenossen». Nach der Gründung von nachtkritik.de hat er sich dann ganz diesem Abenteuer verschrieben, hat Strukturen geschaffen, Geld aufgetrieben, Zukunftsthemen ausgemacht – während der Corona-Lockdowns etwa das Streamen von Theaterproduktionen.

Bis zuletzt. Es mag stimmen, dass niemand unersetzlich ist. Ja, das Theater, die Kritik, die Arbeit bei nachtkritik.de werden ohne Niko weitergehen. Und stimmt doch nicht. Denn Niko fehlt – in seiner Lust an der Auseinandersetzung, seiner Bindungskraft, seiner Liebe. Am 9. Dezember 2022 ist Nikolaus Merck mit nur 65 Jahren an einer Krebserkrankung gestorben.