Kolumne: Immer noch Sprengstoff
In dieser Spielzeit stehen in den Metropolen viele queere Stoffe auf den Spielplänen. Zuweilen auch in kleineren Städten. Aber nicht in allen. Dabei ergäbe sich hier vermutlich die Reibung, die Theater lebendig erhält.
Was bringt die neue Spielzeit? Ziemlich viele queere Themen. Noch 2018 konstatierte Johannes Kram in „Theater heute“: „Während im Inneren der deutschen Theater halbwegs offen schwul lebende Schauspieler kein Problem sind, gibt es dort kaum aktuelle queere Stoffe.“ Natürlich gab’s schon früher Stücke und Inszenierungen mit queeren Motiven. Aber man musste mitunter doch genauer hinschauen und -hören, um sie zu finden (Ausnahmen wie das gerade wieder verstärkt gespielte „Engel in Amerika“ bestätigen die Regel).
Jetzt aber: Glitter and be gay im deutschsprachigen Theater! Und zwar gar nicht nur in der stets dominierenden Boy-meets-boy-Variante, wiewohl sie nach wie vor besonders präsent ist: Matthew Lopez‘ schwules Sittengemälde im Netflixformat „Das Vermächtnis“ eröffnet in Bamberg die Spielzeit und wird in Münster wiederaufgenommen; Philipp Stölzl, mit dem Münchner „Vermächtnis“ beim Theatertreffen eingeladen, wärmt am Residenztheater „Andersens Erzählungen“ auf (mit Crossover-Kitschrand, aber so was ist ja bekanntlich Geschmacksache); Leo Meiers herrlich verstrahltes „zwei herren von real madrid“ wird in Hannover inszeniert. Außerdem gibt’s neue autofiktionale Werke von Falk Richter an der Berliner Schaubühne und Eduard Louis in Regensburg.
Aber es glitzert auch im Sinne von Genderqueer und den anderen Buchstaben von LGBTQIA*: Wilke Weermann inszeniert in Bamberg Kim de l’Horizons „Hänsel & Greta & The Big Bad Witch“. L’Horizons preisgekrönter Roman „Blutbuch“ kommt in Bern, Hannover, Magdeburg und Essen auf die Bühne. Heidelberg bringt Leonie Lorena Wyss‘ „Blaupause“ zur Uraufführung, Hannover die Stückentwicklung „Leyla. Fragmente“ von Miriam Ibrahim mit Texten von Fatima Moumoun, Dresden die Bühnenfassung von Hengameh Yaghoobifarahs „Ministerium der Träume“.
Und das sind nur die neuen Stoffe. Kaum eine Shakespeare- oder Oscar-Wilde-Komödie, die nicht zumindest in Ansätzen queer erzählt wird. Und kaum eine Freie-Szene-Produktion, die Queerness nicht mitdenkt. Nicht mal die Boulevardbühnen, wo die Welt eigentlich noch „in Ordnung ist“ (meistens geht in heterosexuellen Beziehungen irgendwer fremd, bis die Paare am Ende wieder zusammenfinden), bleiben verschont. Im Oktober schlüpft am Berliner Renaissance Theater Sven Ratzke in die Rolle von Pat Gems „Marlene“ – jene Kultrolle, die hier um 2000 herum Judy Winter unzählige Male gegeben hat.
Auch die Oper bekommt vereinzelt eine queere Frischzellenkur. Das Theater St. Gallen hat bei Komponist Tobias Picker ein Werk über „Lili Elbe“ bestellt, eine der ersten Menschen weltweit, die geschlechtsangleichende Operationen hat durchführen lassen. Übrigens gilt hier wie schon bei „Das Vermächtnis“´“: Wenn die Stoffe das Stammpublikum herausfordern, helfen konservative Erzähl- und Kompositionsformen (klingt immerhin gut, verspricht die Partitur).
Das sind nur wenige Beispiele von vielen. Was allerdings auffällt: Jenseits der Metropolen, in denen eigentlich alle großen Häuser queere Formate, Geschichten oder Ästhetiken im Programm haben, sei’s in Österreich, der Schweiz oder Deutschland, sind es ausgewählte Theater, die entsprechende Schwerpunkte setzen: Bamberg, Bern, Dortmund, Hannover, Graz, Karlsruhe, Münster, Tübingen fallen auf. Aber was ist zum Beispiel mit dem Osten jenseits von Leipzig und Dresden, dort, wo queere Erzählungen seltener auf ein junges, studentisches Publikum treffen?
Gera zeigte 2022 „Liebe macht frei“. Magdeburg macht, wie gesagt, „Blutbuch“, auch „Tschick“ lässt sich finden (wiewohl man darüber streiten kann, ob das eher beiläufige Coming Out eines Protagonisten ein Stück queert). Das ist nicht viel.
Der Fall des Wildwechsel-Festivals zeigt aber auch, welchen Sprengstoff Queerness als Thema und Praxis zuweilen noch besitzt. Der usprünglich eingeladenen queerfeministischen Produktion „Lecken“ begegnete massiver Gegenwind; als sie wegen fehlender Gelder wieder ausgeladen werden musste, bemühte man sich, jeden Verdacht des politischen Einknickens wegzuwischen.
„Queere Personen werden hier als Gefahr, als das Feindbild für Familie, Kinder und die Gesellschaft, inszeniert“, erzählte das Kollektiv CHICKS* nach den Angriffen und der Absage, „in den Beiträgen vermischen sich homo- und transfeindliche Hetze mit antisemitischer und ableistischer Sprache.“ Immerhin kündigt das Theater Plauen-Zwickau als Reaktion auf die Angriffe eine künstlerische Auseinandersetzung mit den Themen Queerness, Diversität, Empowerment und Antirassismus in der nächsten Spielzeit an. Da kommt noch was.
Vielleicht ist der Wunsch vermessen, queere Stoffe mit einem Publikum zu konfrontieren, dass völlig anders tickt als in den Großstädten. Vielleicht ist es belehrend. Vielleicht gehen potentielle AfD-Wähler*innen auch nicht ins Theater. Aber vermutlich ergäbe sich doch eine Reibung und gesellschaftliche Diskussion, die Theater lebendig erhält – und die es als Frischekur auch immer wieder braucht.