Opernkritik: Selbstbewusst und freiheitsliebend
Premiere an der Deutschen Oper: Endlich hat Berlin eine szenisch wie musikalisch überzeugende „Carmen“
Rohes Fleisch leuchtet auf dem Vorhang: Sehnen, Muskeln, Blut, in der Mitte ein offenes Auge. Ein getöteter, gehäuteter Stier? Oder gar Menschenfleisch? Möglich, schließlich lässt Regisseur Ole Anders Tandberg seine neue „Carmen“ an der Deutschen Oper unter Organhändlern an der mexikanisch-amerikanischen Grenze spielen. Die Idee kann man anfechten, aber die Durchführung auf der Bühne ist konsequent: Tandberg entfaltet auf, vor und hinter einer großen Dreh-Tribüne ein kunstvolles Symbol-Geflecht um Leidenschaft und Potenz, packt das Stück damit bei den Eiern wie Escamillo, der Carmen hier die Hoden des erlegten Stiers schenkt.
Konsequent war schon Tandbergs großartige „Lady Macbeth von Mzensk“ vor drei Jahren. Auch „Carmen“, die eine ziemlich eingestaubte Inszenierung von 1979 ablöst, vereint kluge Inszenierungsideen, hervorragende Sängerdarsteller und eine überzeugende musikalische Durchdringung. Die meistgespielte Oper des Repertoires wird gerne als Wunschkonzerthitliste mit Verismo-Glut missverstanden. Dabei ist die Opéra-comique – die Figuren dürfen aus unteren Gesellschaftsschichten stammen, Dialoge werden gesprochen – im Kern auch eine komische Oper, gewitzt und witzig. Dafür bürgt das Librettisten-Team Henri Meilhac und Ludovic Halévy, das sonst Offenbach-Operetten textete.
Dafür bürgt aber vor allem Georges Bizet, der akribisch die verschiedensten Tonlagen ausprobiert, um sein Thema mit romantischer Ironie zu einem wirkungsvollen dramatischen Hochseilakt zu machen. Selten wird zum Beispiel deutlich, dass die kurzen gesprochenen Dialoge keine Verlegenheits- oder Genrelösung sind, sondern hochgespannte Verbindungen von A nach B, die die Handlung beschleunigen und die Tonarten-Kontraste der einzelnen Nummern betonen.
Hier schon. Wie nebenbei sprechen die Sänger ihre Sätze, ungekünstelt, sodass die Spannung nie nachlässt. Carmen ist bei Tandberg eine Frau, die noch etwas selbstbewusster ist und freiheitsliebender als die anderen zigarrenrauchenden Arbeiterinnen in der Tabakfabrik. Ihr Klischee-Volantkleid in Signalrot nutzt sie, um die Schleppe mal kokett, mal entschieden mit dem Fuß hinter sich her zu kicken – so wird jede Drehung, jede Wendung zu einem Ausrufezeichen. Dabei hätte sie das gar nicht nötig, denn Clémentine Margaines Carmen herrscht mit den Augen.
Margaine ist eine Ausnahme-Carmen. Man merkt, dass sie die Rolle schon unzählige Male gesungen hat, auch hier am Haus. Mag mancher ihrer hohen Töne etwas spitz klingen – indem sie jeder Nummer, jeder Situation einen eigenen Charakter abringt, macht sie das locker wett. Sie phrasiert ungewöhnlich, verzögert, wird plötzlich leise, um dann mit ihrem farbschillernden Mezzo in die Vollen zu gehen. Schon Bizet komponierte der Rolle Regelbrüche ein, und das führt Margaine fort, so lässig wie kunstfertig.
Das Großartige an dieser Produktion ist, dass Carmen mit Charles Castronovo einen gleichberechtigten Partner besitzt. Nicht auf der Handlungsebene, wo Muttersöhnchen Don José ein hübscher, aber passiver Junge ist, der zu jeder Entscheidung gezwungen werden muss, was Castronovo wunderbar spielt. Sondern stimmlich: Er strahlt tenoral, ohne je zu brüllen, auch in den dramatischsten Situationen nicht, sucht die Nuancen, setzt auch in hohen Lagen himmlische Descrescendi. Das klingt ebenso hinreißend wie Heidi Stobers Micaëla, hier eine erfrischend selbstbewusste Frau, die längst begriffen hat, dass sie bei José die Sache selbst in die Hand nehmen muss. Ihr intensiv leuchtender Sopran, sphärisch hell, beglaubigt ihre szenische Energie.
Dass Markus Brücks Torero Escamillo dagegen wie ein Popanz wirkt, ein aufgeblasenes Eitelkeitssymbol in glitzernder Stierkämpfer-Montur, der bei allem Wohlklang auch vokal eher hohl tönt, ist natürlich Absicht: Carmen liebt ihn nicht, sondern braucht eine Ausstiegsstrategie – wenn José ihren Worten nicht glaubt, müssen halt Taten her. Dass Nicole Haslett und Jana Kurucová, Ya-Chung Huang und Dean Murphy neben vokaler Energie auch noch unbedingte Spielfreude für die schon bei Bizet operettig angelegten Schmuggler-Szenen mitbringen, hilft Tandbergs Inszenierung enorm.
Der Chor der Deutschen Oper hingegen braucht eine Weile, um in den Abend zu kommen. Später aber, als Organhandels-Opfer, deren Geister und Stierkampfbesucher, wenn ihre Bewegungen durchchoreografiert sind, entfaltet sich auch stimmlich ein berührender Klangrausch. Dem gibt Ivan Repušić am Pult nur bedingt Zucker, schärft den Orchesterklang hart, kontrastiert schnelle Rhythmen mit Bizets Lyrismen, arbeitet aber auch die musikalische Ironie genau heraus.
Lange fehlte Berlin eine szenisch wie musikalisch überzeugende „Carmen“. Mit dieser feministischen, radikalen, surreal aufgeladenen Inszenierung, die den Grundkonflikt ernst nimmt, haben Tandberg und seine Sänger die Lücke geschlossen.