Opernkritik: Mord als freud’sche Traumvision
Nach Das Wunder der Heliane an der Deutschen Oper kommt mit Die tote Stadt an der Komischen Oper in diesem Jahr bereits die zweite Korngold-Rarität iin Berlin auf die Bühne. Auch dieses Mal mit der überragenden Sara Jakubiak.
Wie ein Revue-Star sinkt Marietta aus dem Bühnenhimmel hernieder, landet mit dem Schlafzimmerlampenexpress direkt auf dem glitzernden Ehebett. Hier gaukeln ihre Tänzerkollegen um sie herum, deren elegante Anzüge ebenso wild flimmern wie alles andere auch. Denn das imposante bürgerliche Schlafzimmer vom Beginn steht jetzt voll funkelnder Doppelgänger: Schrank, Bett, Frisiertisch, eben noch von gediegener Schwere der 1910er Jahre, wirken plötzlich, als hätte Bühnenbildner Michael Levine zu tief in die Glitterbox gegriffen.
Ja, sind wir im falschen Werk? Optisch besitzt dieser zweite Akt von „Die tote Stadt“ das Flair eine jener Operetten-Wiederentdeckungen der 20er Jahre, die seit Barrie Koskys Intendanzbeginn zum Kernrepertoire der Komischen Oper gehören. Wie deren Schöpfer hat auch Erich Wolfgang Korngold die ihn umgebenden musikalischen Einflüsse aufgenommen und zu etwas aufregend Neuem verwandelt: Seine satte, an Strauss und Mahler geschulte Spätromantik wird dank beeindruckender Effekte – das groß besetzte Orchester umfasst auch Klavier, Mandoline, Celesta und Harmonium – zu einem vielschichtigen Klangrausch-Hörtheater.
Inhaltlich ruft Korngold in seiner 1920 uraufgeführten Oper noch einmal die großen Themen des Fin-de-Siècle auf: Paul trauert um Marie, hat einen Totenkult um sie gebaut, ein Museum der Erinnerung. Nun gibt es plötzlich Marietta, die Marie in Aussehen und Stimme gleicht, sonst aber das Gegenteil ist: femme fatale statt femme fragile, ein Wesen leichter Art, mehr Operetten-Diva denn Kunstreligions-Göttin. Am Ende bringt Paul Marietta um, weil sie seine Triebe angesprochen, ihn von der teuren Toten weggelockt hat.
Aber was ist hier real, was Traum? Korngold, der zusammen mit seinem Vater das Libretto nach Georges Rodenbachs Drama „Le Mirage“ schrieb, suggeriert: Der Mord ist freudsche Traumvision, danach packt Paul die Koffer und verlässt Brügge, die tote Stadt. Regisseur Robert Carsen aber kleidet nur den zweiten Akt in surreale Szenen, die Begegnung Pauls mit seiner Haushälterin auf der Straße, seinen Streit mit Freund Frank, Mariettas glitzernde „Robert der Teufel“-Probe. Am Morgen danach erwachen beide im Ehebett, langsam fügen sich auch die Wände, die lange frei um Raum schwebten, wieder zusammen. Als Marietta seinen Totenkult verhöhnt, tötet Paul sie wirklich – und wird von Freund Frank und Haushälterin Brigitta in weißen Arztkitteln abgeholt, während Maries Stimme von außen (und als unscharfe Schwarz-Weiß-Projektion) lockt.
Das alles wird äußerst präzise erzählt, weil Carson seine Sänger zum mal fein psychologischen, mal enthemmten Spiel verführt. Carsons Verneigung vor der Operette ist dabei mehr als nur der Versuch, für Pauls Frauen-Missverständnis einprägsame Bilder zu finden. Zum einen führt sie Pauls verklemmten Versuch ad absurdum, zwischen reiner, keuscher Liebe und sexueller Lust zu unterscheiden. Zum anderen ist dieser Schritt in die glitzernde Halbwelt schon bei Korngold angelegt (der Anfang der 1920er erfolgreich klassische Operetten bearbeitete), in Mariettas Tanztruppe wie in den Liedern „Glück, das mir verblieb“ und „Mein Sehnen, mein Wähnen“, die gerade wegen ihres süffigen Schmelzes zu Hits wurden.
Zu viel Schmelz kann man dem Orchester der Komischen Oper unter seinem neuen Generalmusikdirektor Ainārs Rubiķis nicht vorwerfen, eher, dass er die Lautstärke nicht öfter drosselt. Schnell beginnt es zu dröhnen, verschluckt der Raum die Feinheiten. Schade. Denn wann immer Rubiķis die Lautstärke zurückfährt, hört man, wie genau es hier flirrt, wie akkurat die Rhythmen ineinander übergehen und die Klangszenen einander überlagern. Herrlich delikat wird das Orchester, wenn der Kinderchor hinzukommt und hellwach, als sich das Drama zuspitzt: Da zucken katastrophische Mordlust-Kakophonien auf wie Blitze, wirken die Generalpausen wie Schockmomente.
Gegen dieses Klanggewitter müssen sich die Sänger durchsetzen – und das tun sie weitgehend überzeugend. Aleš Briscein besitzt eine kraftvolle Mittellage, die ins Heldische geht, dabei etwas zutiefst Menschliches verströmt. Wenn er sich zurücknimmt, leise wird, klingt er plötzlich wie ein unschuldiges Kind, was bei diesem zerrissenen Paul ungemein berührt. Wenn er in der hohen Lage aber in die Kopfstimme wechselt, hört man statt einer voix mixte nur ein etwas unsicheres Falsett. An der Komischen Oper hat er bereits etliche Rollen übernommen zwischen Ferrando und Lenski, immer blieb er stimmlich wie szenisch etwas steif. Hier aber, beim verklemmten Paul, der sich so entsetzlich mit seinem Gewissen quält, passt das ganz gut.
Wesentlich agiler wirkt Ensemblemitglied Günter Papendell. Für seine zwei Rollen, die am Ende ja doch eine Person sind, findet er einen eigenen Ton: Für Freund Frank bändigt er seinen warm timbrierten Bariton, nimmt sich zurück, um ihn als Fritz sinnlich aufblühen zu lassen. Anders aber als Onegin oder als Golaud nimmt er das Orchester nicht immer als Partner war, forciert zuweilen.
Der Trumpf dieses Abends ist Sara Jakubiak. Erst im Frühjahr sang sie die Titelrolle in „Das Wunder der Heliane“ an der Deutschen Oper – ein Ereignis! Auch jetzt wieder beeindruckt ihr makelloser, lichtdurchfluteter, silbrig glänzender Sopran, der ein erotisches Timbre besitzt, das bei aller Kontrolliertheit Ekstase verströmt. Auf der Bühne ist sie ganz leichtfüßige Spötterin, Verführerin aus Übermut und Spontaneität. Und doch bekommt ihre Marietta eine berührende Tiefe, als sie zu Beginn des dritten Aktes über ihre verstorbene Doppelgängerin nachdenkt in herrlich weiten Bögen.
Korngolds Opern gehörten lange zu jenen Werken des Betriebs, die mehrfach von den deutschen Bühnen verbannt wurden: zuerst von den Nazis, dann von der atonal versnobten Hochkultur der Nachkriegszeit. Dass jetzt seine zwei Hauptwerke in Berlin so überzeugend neu aufgeführt und verglichen werden können, ist eine späte, umfassende Rehabilitation – und insbesondere dank Sara Jakubiak ein doppeltes Glückserlebnis.