Essay: Eins, uneins, zerrissen, geeint?
30 Jahre Vereinigung – Wie sich das Theater dem Thema 2020 genähert hat
In diesem merkwürdigen Corona-Jahr ist so manches Jubiläum untergegangen, das mehr Aufmerksamkeit verdient hätte. Die Wiedervereinigung zum Beispiel. Hatte überhaupt jemand Lust aufs Feiern? Die Wessis rollen die Augen über die undankbaren Rebellen, all die Pegidisten, AfD-Wähler, Rundfunkgebührenhöhungs-Verhinderer, Corona-Leugner Ost – und fühlen sich von den explodierenden Infektionszahlen in Sachsen vermutlich bestätigt. Genau diese Arroganz bringt viele Ossis wiederum auf die Palme. Wiedervereinigung? Das soll man feiern?
Die Spannbreite der Emotionen hat das Theater indes in diesem Jubiläumsjahr gut auf den Punkt gebracht. In Magdeburg etwa mit der Stückentwicklung „Tod der Treuhand“: Regisseurin Carolin Millner erzählt anhand des Magdeburger Kombinats SKET, dem größten Schwermaschinenbau-Unternehmen der DDR, von der wirtschaftlichen Abwicklung eines ganzen Landes. Anfangs, vor dem Mauerfall, beschwert sich die SKET-Kulturbeauftragte noch darüber, wie schwer es ist, die Werktätigen statt in Rudi-Strahl-Komödien auch mal in einen Heiner-Müller-Abend zu schicken. Später versucht sie, im Westen Kultur zu machen. Nur hat da niemand auf sie gewartet. Außer jenem Manager, der Insider-Infos braucht, um die SKET im Auftrag der Treuhand kapitalismusfähig zu machen.
Natürlich endet das wie so oft in der Abwicklung des Unternehmens. Millner hält sich nie mit inszenierten Wikipedia-Weisheiten auf, sondern bleibt immer konkret. In Dialogszenen bringt sie uns die vielen sozialen Zerreißproben nahe, zeigt diejenigen, die bis zuletzt an den Betrieb und seine Stärken glauben, an Zusammenhalt und Eigenverantwortung. Und jene, die den Absprung schaffen – manche in die Selbstständigkeit (in der sie dann die Ahnungslosigkeit der anderen Ossis ausbeuten), manche ins Nichts. Spürbar wird, dass die Wiedervereinigung und ihre wirtschaftlichen Folgen mit Arbeitslosigkeit, Prekarisierung, Identitätsverlust für viele Ostdeutsche ein traumatisches Erlebnis war, das bis heute nicht aufgearbeitet ist.
Millner verlegt die Handlung in ein Wasserbecken, durch das die Ossis als Meerfrauen und -männer waten. Wie die kleine Meerjungfrau, die an Land scheitert, straucheln auch sie unter den neuen Umständen. Wem es gelingt, der oder die macht im Anzug weiter. Das zielt sehr genau auf die Brüche und Wunden 1990ff., ohne simpel, karikaturhaft, witzig zu werden, wie es sonst oft geschieht. Manchmal wenden sich die Spieler*innen, die stets leise bleiben, verhalten, innerlich, einzeln oder chorisch ans Publikum, selbst dann noch nachdenklich. Man versteht intuitiv den Ost-Frust, der bis zu AfD und Corona-Leugnung führt, wenn eine inmitten des SKET-Ausverkaufs über die „Scheiß-Demokratie“ stöhnt.
Allerdings wird erst mit Ines Geipels Buch „Umkämpfte Zone“ ein umfassendes Bild draus. Ihre These: Dass heute die Hälfte der Ostler fremdenfeindlich ist und in etlichen Regionen die AfD stärkste politische Kraft, habe mit den Kontinuitäten zweier Diktaturen hintereinander zu tun. Treffend zeichnet sie nach, wie sehr die DDR das Nationale betonte, wie das Fremde – jenseits der eher formelhaften deutsch-sowjetischen Freundschaft – meist das Böse war (man schaue sich nur diese Folge der von mir als Kind sehr geliebten Spielhaus-Kindersendung an, in der der brasilianische Gast, ein Papagei, alle Hausbewohner*innen gegeneinander aufhetzt). Geipels Diagnose der Ost-Gesellschaft: „autoritärer Charakter“. Das Buch geht mit vielen Lebenslügen der DDR, mit mangelnder Aufarbeitung und dem Durchkommen der einstigen Täter hart ins Gericht.
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