Newsletter: Radikal Sommer

Newsletter: Radikal Sommer

Newsletter der nachtkritik.de-Redaktion vom 17. Juni 2021: Sommerliche Selbst-Kannibalisierung? +++ Theater in Uruguay +++ Vielfache Vorfreude

Guten Morgen,

sind Sie zuletzt live im Theater gewesen? So richtig mit Test und Maske und umständlichen Gängen? Bestenfalls mit Speise-Wagen vorm Haus, schlimmstenfalls mit knurrendem Magen? Open Air mit Konkurrenz von Vögeln oder der Boom-Box der Nachbar:innen? Oder in den Sälen, mit Maske und rauschender Lüftung? Man macht was mit. Und doch: Es ist wunderbar, dass der Lappen wieder vor echtem Publikum hochgeht! ­ ­

Und zwar so richtig. Davon künden die Nachtkritiken, die wieder in alter Schlagzahl erscheinen – allein heute früh sind’s drei. Davon künden auch die wiedererstandenen Nachtkritik-Charts, die zum Reisen verführen könnten. Wenn, ja, wenn es denn überhaupt Karten oder gar Vorstellungen gäbe. Denn im Norden nahen mit Vehemenz die Ferien – schon schließen die Häuser ihre Pforten wieder. Bis dahin aber ballern sie noch raus, was geht – manchmal mit nur einer Vorstellung: Premiere und danach nichts mehr (etwa im Fall von Ersan Mondtags It’s going to get worse am Berliner Gorki Theater). ­ ­ ­ ­

Aber es soll schon bald wieder weitergehen. Gerade kündigt das Berliner Ensemble an, bereits am 11. August in die neue Spielzeit zu starten. Da haben die Menschen in Bayern sich gerade erst an die Ferien gewöhnt, drängen sich noch die Sommerfestivals zwischen Hamburg und Salzburg um ihren Platz an der Aufmerksamkeitssonne. Es wird ein ungemütlich voller August, wie es scheint. Ob sich das Theater damit nicht selbst kannibalisiert, zumal in Konkurrenz zu Strand, Bergen, Baggersee? Hat nach dem Innehalten, mitunter auch Verstummen in den vergangenen eineinhalb Jahren jetzt der Wettlauf, das survival of the fittest, das Höher, Schneller, Weiter gewonnen, wo man eben noch darüber nachdachte, was von der Krise bleiben könnte? Ob weniger nicht mehr ist? Ob es neben der Kunst der Verschwendung es auch eine Kultur der Achtsamkeit und des – ja – Verzichts geben müsste? Nachhaltigkeit soll eigentlich doch das Motiv der kommenden Zeit sein… ­ ­ ­

­ Zu dem, was bleibt, könnten ein paar Netzexperimente gehören. Auf die schaut traditionell die Konferenz Theater und Netz, die von nachtkritik.de und der Heinrich-Böll-Stiftung organisiert wird und wegen Corona zwei Mal ausfallen musste (stattdessen gab’s zwei Bücher, die man hier und hier kostenlos downloaden oder bestellen kann). Nun aber steht fest: Am 11. September 2021 wird es endlich wieder eine Live-Version in Berlin geben. ­ ­ ­ ­

Von zwei Arbeiten, die fürs Netz entwickelt wurden, berichtet übrigens auch Leonardo Flamia in seinem Theaterbrief aus Uruguay: eine Webcam-Serie über zwei Schwestern und eine politisch-theatrale Diskussion. „Eine fiktive Figur tritt mit einem Politiker in den Dialog, der einen Teil der Gesellschaft ‚repräsentiert‘, auf den Brettern der Sala Verdi, mit dem leeren Parkett im Hintergrund.“ Dabei laufe „der Politiker Gefahr, dass seine ‚Performance‘ ‚zur Schau gestellt‘ wird, dass sein Sprechen substanzlos erscheint, als bloßer ‚Schein‘ entlarvt wird, als Fiktion, die vorgibt, ‚Realität‘ zu sein, aber diesem Anspruch nicht standhalten kann.“ Würde auch in den in Deutschland beginnenden Wahlkampf passen. ­

Ob der so radikal wird, wie es die notwendigen Transformationen angesichts von Klimakrise und wachsenden sozialen Spaltungen gebieten? Ups, jetzt hab ich das böse Wort „radikal“ gesagt. Jedenfalls wenn es nach meinem Kolumnen-Kollegen Wolfgang Behrens geht, der das Adjektiv in Zusammenhang mit Theater nicht mehr hören kann: „Was mich daran kolossal nervt, ist, dass darin bereits ein so billig wie möglich zu habendes Werturteil enthalten ist: Wenn sie es radikal gemacht hat, dann ist es in jedem Fall gut. Weitere Begründungen können entfallen. ‚Radikal gekürzt‘? Bravo! ‚Radikal entkernt‘? Toll! ‚Radikal vergeigt‘? Na, wenigstens radikal.“ Und fordert eine „radikal vieldeutige“ Kunst. ­ ­ ­ ­

Vieldeutig sind meist die Kostüme auf der Bühne. Sie werden allerdings oft nicht wahrgenommen und zu wenig wertgeschätzt, findet Kostümbildnerin Bettina Wernerin der zweiten Folge der zweiten Podcast-Staffel „Applaus Applaus“. Zu oft würden Kostümbildner:innen nicht als inhaltlich und intellektuell Arbeitende wahrgenommen. Auch in der Theaterkritik, wo Kostüme entweder nicht erwähnt oder aber beschrieben werden, ohne die verantwortlichen Künstler:innen zu nennen – selbst wenn sich der halbe Artikel ums Kostüm dreht: „Da bin ich manchmal schockiert!“ Völlig zu recht. Geht auch auf meine Kappe. Ich versuche drauf zu achten.

Aber jetzt erst mal an den See, später ins Theater. Geht ja wieder.

Einen prachtvollen Sommer, drinnen oder draußen, wünscht

Georg Kasch