Buchkritik: Das Netz als Höllenmaschine
Frankreichs Literaturstar Virginie Despentes legt einen Roman über Identitätspolitik und soziale Medien vor: “ Liebes Arschloch“
Wer sowas in den Sozialen Medien liest, legt vermutlich erst mal die Ohren an. „Die Internationale der Jammergestalten hat wieder zugeschlagen“, schreibt er. „Eine Hexe“ sei sie, „auseinandergegangen, verlebt, schlechte Haut, ein schmuddeliges, lautes Weibsstück“. Ihre Antwort: „Ich hoffe jetzt nur, dass deine Kinder von einem Lastwagen überfahren werden und du ihren Todeskampf mitansehen musst, ohne etwas tun zu können, und dass ihnen die Augen aus den Höhlen spritzen und ihre Schmerzensschreie dich jeden Abend verfolgen“.
Die das schreiben, sind nicht etwa verrohte Teenager. Sondern ein relativ erfolgreicher Schriftsteller in mittleren Jahren und einem #MeToo-Fall am Hacken sowie eine äußerst berühmte Schauspielerin in ihren 50ern. Dass sich aus diesem brutalen Auftakt ein Gespräch ergibt, liegt daran, dass Rebecca Oscar nicht auf Instagram antwortet, wo er seinen Wut-Post veröffentlicht, sondern privat, vermutlich per E-Mail. So beginnt ein gleichermaßen unwahrscheinlicher wie bezwingender Dialog zweier ungleicher Charaktere, der eine der großen Fragen der Gegenwart berührt: Wie gelingt es uns, trotz aller Unterschiede miteinander im Gespräch zu bleiben?
Fünf Jahre nach ihrer grandiosen Bestseller-Trilogie „Das Leben des Vernon Subutex“ über einen Pariser Plattenverkäufer, der erst obdachlos, dann zum Guru und später – ebenso absichtslos – zum Religionsstifter wird, widmet sich die französische Autorin Virginie Despentes mit „Liebes Arschloch“ erneut zentralen Themen der Gegenwart: toxische Männlichkeit, Feminismus, die Klassenfrage. Natürlich werden sie nicht (oder nur selten) referiert, sondern sind eingebettet in eine ziemlich unterhaltsame, süffig geschriebene, wendungsreiche Geschichte um Identität: Weiß ich wirklich, wer ich bin, wie ich mich verhalte, was ich erinnere? Oder kann es sein, dass auch die anderen recht haben mit ihren Erfahrungen, Einstellungen, Anekdoten?
Diese Leitfrage macht „Liebes Arschloch“ zu einer Art Krimi: Welche Eindrücke, welche Geschichten sind wahr? Dabei erweisen sich Oscar und Rebecca zunächst als unzuverlässige Erzähler. Das Gespräch geht weiter, weil sie einander als Kinder kannten – Rebecca war mit Oscars großer Schwester befreundet. Beide kommen aus prekären Verhältnissen, sind aufgestiegen und doch nie ganz angekommen. Anfangs hält ihren Mailwechsel am Leben, dass keiner nur das vorletzte Wort haben will. Und dass er Schriftsteller ist, der umständlich seine Erinnerungen vor ihr, dem eigentlich verehrten Star, ausbreitet, vermutlich, um den Kontakt nicht gleich wieder abreißen zu lassen. „Hast du keinen Freund, mit dem du reden kannst?“, herrscht sie ihn an. Hat er nicht.
Aber auch sie ist einsam, erst recht, als Corona ausbricht und die Lockdowns beginnen. Und noch etwas verbindet sie, bei allen Unterschieden: Beide haben eine Suchtgeschichte. „Liebes Arschloch“ ist nämlich nicht nur ein Brief-, sondern auch ein Entwicklungsroman. Zunächst wirkt es so, als würde Rebecca zu Oscars Mentorin, die ihm vermittelt, was er Zoé Katana angetan hat. Seine einstige Verlagsmitarbeiterin hat seine Übergriffigkeit öffentlich gemacht und kurbelt damit den #MeToo-Shitstorm gegen ihn an. Später dreht sich die Perspektive, weil Oscar derjenige ist, der sich zuerst ernsthaft seiner Sucht und damit sich selbst stellt. Spannend ist es mitzuerleben, wie beide sich allmählich verändern, trotz aller Rückschläge und dem Wiederaufflammen von Selbstgerechtigkeit und Trotz. Einfach ist hier nichts und niemand so richtig sympathisch. Und dennoch kommen einem die Figuren in ihrer Widersprüchlichkeit nahe.
Überhaupt Perspektiven. Schon „Vernon Subutex“ lebte ja davon, dass man ständig mit seinen Vorurteilen konfrontiert wurde, weil man sich mit den vorhandenen Informationen ein Bild machte von einer Figur – und dieses Bild wenig später geraderücken musste. Auch jetzt wieder. Zoé zum Beispiel, mit gelegentlichen Wut-Posts die dritte im Brief-Bunde, erweist sich als ebenso verletzt, verunsichert, verführt durch die Sozialen Medien, deren Emotionsmanipulationen sie nicht standhält (und mit denen sie am Ende derart furios abrechnet, dass es wirkt, als spräche hier die Autorin direkt zu uns: Meldet euch ab, jetzt gleich!). Im letzten Drittel wird der Roman geradezu witzig, wenn etwa Oscar vom Versuch berichtet, im Internet und am Schalter eine grenzüberschreitende Hundefahrkarte zu kaufen und irgendwann vier Mitarbeiter mit dem Verkaufssystem kämpfen.
Davor gibt es durchaus Passagen, die in ihrem mitunter selbstgerechten Monologisieren ermüden – und eher an Feuilleton-Essays erinnern als an einen Roman. Auch unterscheidet sich die Sprache der beiden Protagonisten kaum, zumindest in der Übersetzung von Ina Kronenberger und Tatjana Michaelis. Aber immer dann, wenn man kurz davor ist, das Buch zuzuklappen, kommt ein weiterer Perspektivwechsel, löst jeden Anschein von Schwarzweiß auf – und man liest gebannt weiter.
So wirkt dieser kluge, versöhnliche Roman mit seinem unerschütterlichen Glauben an die Menschheit wie eine Handlungsanweisung: Macht die identitätspolitischen Gräben nicht zu euren Hauptkampfarenen! Denn, auch das wird den beiden Aufsteigern klar: Dass die Gesellschaft taumelt, liegt vor allem an den krassen sozialen und wirtschaftlichen Unterschieden, die durch Corona besonders sichtbar wurden. Die Politik macht keinen guten Job, die Sozialen Medien sind Höllenmaschinen. Aber das mit den Menschen kann noch was werden – wenn sie das Gespräch nicht abreißen lassen.