Theaterkritik: Wenn Journalismus die Würde verletzt
„Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ an der Vagantenbühne
Warum wird eine junge Frau, ruhig, klug, entschieden, zur Mörderin an einem Journalisten? Heinrich Böll hat das in seiner 1974 erschienenen Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ durchgespielt: Die Titelfigur rückt in den Fokus von Polizei und Boulevardpresse, nachdem sie ihrem Geliebten zur Flucht verhilft, der wegen Raub und Betrug gesucht wird. In nur vier Tagen zerstören die Berichte im hier DIE ZEITUNG genannten Medium Katharinas Existenz.
Bölls Erzählung wurde zu seinem meistverkauften Buch, in mehreren Bundesländern zur Schullektüre und 1975 von Volker Schlöndorff und Margarete von Trotta verfilmt. Auch auf die Theater- und Opernbühne gelangte es mehrfach. Für die Vagentenbühne hat Clemens Mädge jetzt eine eigene Fassung erstellt. Schon Bölls Vorlage, in der der Autor eigene unangenehme Erfahrungen mit der BILD-Zeitung reflektiert, lebt davon, dass sie langsam die Daumenschrauben anzieht. Im Vorsatz, der auch auf der Bühne zitiert wird, heißt es: „Sollten sich bei der Schilderung gewisser journalistischer Praktiken Ähnlichkeiten mit den Praktiken der Bild-Zeitung ergeben haben, so sind diese Ähnlichkeiten weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidlich.“
In Mädges kluger Fassung interviewen zwei Journalisten Katharina, rollen den Fall von hinten auf. Und verwandeln sich dabei übergangslos in ermittelnde Polizisten. Schon ihre joviale Schein-Objektivität, ihre Suggestivfragen, ihre körperliche Präsenz vermitteln eine subtile Form von Übergriffigkeit, von Gewalt, die durch Geschlecht und Anzahl – zwei Männer gegen eine Frau – noch gesteigert wird. Druck baut sich auf, der auch einer starken Persönlichkeit wie Katharina Blum zusetzen muss.
Regisseurin Kathrin Mayr hat das zeitlos inszeniert, zwischen einem Dutzend Stäbe, die von der Decke hängen und mal weiß, mal rosa leuchten. Eine strenge Formation, die Katharina durcheinanderbringt und die gleichermaßen für die gesellschaftliche Ordnung stehen kann wie für die Stäbe einer Gefängniszelle. Katharinas Kleidung passt in die 70er wie ins Heute, ein langer, eleganter Mantel, drunter Rollkragenpulli und weite Hose.
Magdalena Artelt spielt Katharina als eine Frau, die sich ihre Unabhängigkeit in der Gesellschaft hart erkämpfen musste, die ihre Freiheit über alles liebt und zutiefst verletzt ist vom Eindringen der Ermittler und Journalisten in ihr Privatleben. Wenn deren Fragen zu persönlich werden, verengt sich ihr klarer Blick, verhärten sich die Lippen, wirkt sie noch schmaler. Hier steht eine Frau, die weiß, was sie will. Und die plötzlich miterleben muss, zum Objekt einer hetzerischen Meute herabgewürdigt zu werden.
Denn mit den Schlagzeilen, an die hinteren Wände projiziert, kommen auch die hasserfüllt-pornografischen Anrufe und Briefe, wird sie von den Nachbarn bedrängt oder geschnitten. DIE ZEITUNG verdreht Zitate, nimmt Vermutungen als Tatsachen, dringt bis zur Mutter im Krankenhaus vor, die daraufhin stirbt. Und schiebt diesen Tod Katharina in die Schuhe.
Während man Katharina beim Denken zusehen kann, wirken die beiden Journalisten und Polizisten von Nils Malten und Daniel-František Kamen wie Karikaturen, schmierige Platzhirsche, manipulativ und skrupellos. Das treibt den Druck sofort nach oben, verteilt Gut und Böse aber auch von Anfang an sehr klar. Dennoch: „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ ist ein starker Abend, der auf äußerst wirkungsvolle Weise die Erzählung auf die Bühne holt.